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Autismus kein lebenslanges Schicksal

Wer in der Kindheit autistische Züge entwickelt hat, wird damit ein Leben lang zu kämpfen haben - so die gängige Lehrmeinung. Eine neue Studie amerikanischer Psychologen zieht dieses Dogma in Zweifel. Vor allem gute soziale Kontakte scheinen die Chance zu erhöhen, dem Autismus zu entkommen.

Von Martin Hubert | 06.03.2013
    Immer wieder sind Fälle von Autisten beschrieben worden, die ihre Probleme in den Griff bekamen. Manchmal aufgrund von Therapie und Übung, manchmal quasi von selbst. Die Betroffenen konnten sich dann sprachlich besser artikulieren, die Gesichtsausdrücke und das Innenleben anderer Menschen verstehen, und sie neigten auch nicht mehr zu stereotypen Bewegungen und Verhaltensmustern. Allerdings ist umstritten, ob die Diagnose "Autismus" bei diesen Personen immer zutraf und ob es mehr als nur Einzelfälle waren. Deshalb untersuchte ein Team um Prof. Deborah Fein vom Psychologischen Institut der University of Connecticut 34 solcher Personen genauer. Die 8- bis 21-Jährigen waren in ihrer frühen Kindheit als Autisten diagnostiziert worden, erbrachten dann aber ganz normale Schulleistungen. Deborah Fein verglich die psychiatrischen Gutachten mit den Schilderungen der Eltern und stellte fest: Die Autismusdiagnosen waren offenbar korrekt gewesen. Dann führte sie psychologische Tests an den Kindern und Jugendlichen durch:

    "Wir untersuchten ihre allgemeinen geistigen Fähigkeiten, zum Beispiel ihre Intelligenz. Wir schauten, wie gut sie Gesichter erkennen können, analysierten ihre sozialen und kommunikativen Fähigkeiten, ihre Aktivitäten im alltäglichen Leben und ihr Sprachvermögen. Und wir stellten fest: Diese Menschen unterschieden sich in nahezu allen Belangen nicht mehr von ganz normalen Kindern. Ich hatte einige solcher Fälle bereits in meiner klinischen Praxis erlebt. Aber es war doch überraschend für mich, in dieser Studie zu sehen, wie 'normal' sie wirklich sind."

    Deborah Fein fand noch einen zweiten Beleg dafür, dass die Testpersonen ihre Störung tatsächlich überwunden hatten. Sie schnitten sogar im Vergleich mit 44 sehr intelligenten Autisten in vielen Bereichen besser ab. Einige Wissenschaftler hatten in den letzten Jahren optimistisch geschätzt, dass über 40 Prozent aller Autisten aus ihrer Störung herauswachsen könnten, wenn sie in einem guten sozialen Umfeld ihre Fähigkeiten trainieren. Deborah Fein hält das für übertrieben, meint aber, dass das alte Dogma: "Einmal Autist, immer Autist" revidiert werden muss.

    "Wenn ich auf der Grundlage aller vorliegenden Informationen schätzen sollte, würde ich sagen: 10 bis 25 Prozent aller Betroffenen können aus dem Autismus herauswachsen, wenn sie gut unterstützt werden."

    Deborah Fein fragte in ihrer Studie auch, welche Eigenschaften für die positive Entwicklung ihrer Testpersonen verantwortlich waren: das Sozialverhalten, das Sprachvermögen oder die Bewegungsfähigkeit?

    "In dieser Studie mussten wir uns auf die Erinnerung der Eltern an die frühe Entwicklung ihrer Kinder verlassen. Bei manchen lag das 15 Jahre lang zurück, sodass man sich nicht zu hundert Prozent auf die Berichte verlassen kann. Aber die Berichte legen dennoch nahe, dass die Kinder, die aus dem Autismus herauswuchsen, im stereotypen Verhalten und in der sprachlichen Kommunikation genauso schlecht waren wie Betroffene, die lebenslang autistisch blieben. Aber sie hatten mehr Kontakte und mehr Freunde, ihre sozialen Defizite waren also weniger ausgeprägt."

    Das spricht dafür, dass vor allem gute soziale Kontakte die Chancen erhöhen könnten, dem Autismus zu entkommen. Allerdings sind das erste Ergebnisse, die noch bestätigt und mit anderen Erkenntnissen zusammengeführt werden müssen. In einer früheren Studie hatte Deborah Fein selbst zum Beispiel Indizien dafür darauf gefunden, dass gute motorische Fähigkeiten eine entscheidende Rolle spielen. An ihrer aktuellen Testgruppe hat Deborah Fein auch Daten über deren Krankheiten und Hirnentwicklung erhoben. Sie werden gerade ausgewertet und könnten künftig noch weitere Hinweise liefern, wann Autismus kein lebenslanges Schicksal bleiben muss.