Belletristik

Manipulativer Road Trip

Eine Straße führt durch eine verschneite Landschaft in der Provinz Alberta in den kanadischen Rocky Mountains. Aufnahme vom Februar 2006. Foto: Ursula Düren
Straße in den verschneiten Rocky Mountains der Provinz Alberta © dpa/Ursula Düren
Von Roland Krüger · 04.02.2014
Sie ist elf, er 54 Jahre alt. Sie fragt ihn nach einer Zigarette, er überredet sie, mit ihm einen Ausflug in die Rocky Mountains zu unternehmen. Schwer erträglich und doch faszinierend entspinnt sich Bonnie Nadzams preisgekrönter Debütroman.
Nein, mögen kann man ihn nicht, den Helden aus Bonnie Nadzams Debütroman, David Lamb. Im Gegenteil, man wird ihn vermutlich hassen.
Lamb ist Anfang fünfzig, seine Frau hat ihn verlassen, sein Arbeitgeber hat ihn suspendiert, und gerade ist sein Vater gestorben.
Die elfjährige Tommie schnorrt ihn um eine Zigarette an – ihre Clique will es so. Aber Lamb gibt ihr keine, sondern schlägt vor, ein Kidnapping zu faken, um die Clique zu beeindrucken, und Tommie macht mit.
Bonnie Nadzam spielt in ihrem Buch mit Extremen und lässt eine Geschichte ablaufen, die ihre Leser gleichzeitig verstören und faszinieren wird. Lamb fährt mit dem Mädchen in die Rocky Mountains, und es ist schwer auseinanderzuhalten, wo die beiden Hauptfiguren einander helfen und wo sie einander verletzen.
Er redet sich und ihr ein, dass er ihr ein anderes Leben bieten könne, und Tommie macht diesen Ausflug offenbar freiwillig mit. Jedenfalls wenn man ihren Worten glaubt. Aus der Clique wird sie kaum jemand vermissen. Ihr Zuhause war trist. Dass ihre Mutter und ihr Stiefvater eine Anzeige nach dem Verschwinden des Mädchens erstattet haben, kann der Leser nur vermuten.
Denn Bonnie Nadzam bleibt bei ihren Hauptfiguren, die sich für Außenstehende mal als Vater und Tochter, dann wieder als Nichte und Onkel ausgeben. Zunächst verhält sich Lamb dem Mädchen gegenüber auch sittsam, geradezu fürsorglich. Er zeigt ihr die Schönheit der Natur und lehrt sie, wie man Feuer macht. In den Tagen der Hinreise reift Tommie geistig heran, wirkt mitunter weniger verletzlich als Lamb.
Irritierendes Spiel um Täuschung und Manipulation
Doch die Stimmung kippt immer wieder. Tommie empfindet Heimweh, dann wieder fühlt sie sich von Lamb als Person mehr angenommen als jemals zuvor in ihrem Leben. Aber Lamb entpuppt sich zunehmend als Egozentriker, der in erster Linie sich und nicht dem Mädchen helfen will. Fragen, die er dem Mädchen stellt, sind Suggestiv-Fragen. Seine Beteuerungen halten einer Überprüfung nicht stand. Niemals würde er Tommie küssen, sagt er zu Beginn der Reise, dann aber tut er genau das. Und Tommie hat nichts dagegen – scheinbar. Doch weiß eine Elfjährige in dieser Situation überhaupt, was sie möchte und was nicht? Und kann sie es dann auch äußern? Was wird Lamb als nächstes tun?
Die Autorin verwendet starke Dialoge und eine kraftvolle Sprache und zeigt damit, wie Sprache als Mittel zur Manipulation eingesetzt werden kann.
Der Roman hat aus dem Stand den Flaherty Dunnan First Novel Prize gewonnen, der alljährlich in New York für den besten Debütroman vergeben wird, und Leser loben die Tatsache, dass die Autorin gegen Konventionen verstößt und dass sich die Geschichte gängigen moralischen Urteilen entzieht.
Aber vermutlich scheiden sich an dieser Stelle auch die Geister. Wer eine Tochter im Alter von Tommie hat, wird den Roman streckenweise schwer ertragen können, auch wenn die Autorin an der entscheidenden Stelle im Vagen bleibt. Wer sich lesend auf ein irritierendes Spiel um Selbsttäuschung und Manipulation einlassen möchte, wird den Roman faszinierend finden.

Bonnie Nadzam: Mr. Lamb
Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel
dtv premium, München 2014
240 Seiten, 14,90 Euro