Neun Jahre, 27 Bände

Von Jürgen König · 17.11.2010
Für Kiepenheuer & Witsch ist es das größte Projekt seiner Verlagsgeschichte: die "Kölner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls". Neun Jahre hat es gedauert, 27 Bände sind es geworden. Sie enthalten die großen Romane, etwa "Ansichten eines Clowns" oder "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", aber auch unveröffentlichtes Material.
27 Bände in rotem Leinen, knapp anderthalb Regalmeter: Heinrich Böll wird Klassiker. Ein Kraftakt für den Verlag Kiepenheuer & Witsch. Und all die Mitwirkenden und Förderer - von der Erbengemeinschaft Böll und der Heinrich-Böll-Stiftung über den Kulturstaatsminister und die Deutsche Forschungsgemeinschaft bis hin zur Kölner Sparkasse. Die Editionsgeschichte war ebenso konfliktreich wie glückvoll. Konflikte gab es, da eigens für diese Werkausgabe in Wuppertal eine Forschungsstelle unter Leitung des Germanisten Werner Bellmann eingerichtet wurde, diese Zusammenarbeit gedieh nicht: ein neues, nun internationales Herausgebergremium wurde bestellt, dessen Sprecher wurde der Gießener Germanist – und er schaffte es, neun Jahre lang in schöner Regelmäßigkeit drei Bände jährlich erscheinen zu lassen – angesichts vieler Publikationsruinen eine Meisterleistung.

Glück im Unglück war der Edition auch beschieden, als das Kölner Stadtarchiv einstürzte und den Nachlass Heinrich Bölls unter sich begrub, da waren viele Dokumente aus Bölls Nachlass für die Werkausgabe schon sichergestellt und damit ungeahnterweise gerettet worden. Die Edition folgt einer chronologischen Anordnung, also gattungsübergreifend. Damit ergibt sich für Herausgeber Ralf Schnell ein völlig neue Erfahrung des Werks von Heinrich Böll:

"Die Ausgabe folgt dem Prinzip der Fortschreibung, das ist ein Begriff Heinrich Bölls, mit dem er versuchte deutlich zu machen, dass er sich in einer fortwährenden Entwicklung befindet, nicht allein die Chronologie seiner Entwicklung ist damit gemeint, sondern auch die innere Erfahrungsangereicherte, die künstlerische Entwicklung. Ich denke, Böll ist noch nie so sichtbar geworden wie mit dieser Ausgabe, in allen Facetten seiner Entwicklung als Autor, Publizist und Essayist, als politische und als öffentliche Figur, auch als individueller, will sagen, als kämpferischer, zweifelnder, als verletzlicher und sensibler Mensch."

Die Edition enthält alle veröffentlichten Texte Bölls, neu herausgegeben und ausführlich kommentiert. Sie ist keine historisch-kritische Ausgabe, sondern ausdrücklich eine Leseausgabe, die aber wissenschaftlichen Ansprüchen genügen will. Dass der ursprünglich vorgesehene Herausgeber, Werner Bellmann, in der Aprilausgabe der Fachzeitschrift "Wirkendes Wort" über vier schon erschienene Bände der Böll-Edition ein vernichtendes Urteil gesprochen hatte: "von hinten bis vorne unprofessionell" und "nicht zitierfähig" sei sie, zum einen, weil der Handschriftennachlass ebenso wenig gesichtet worden sei wie der Briefnachlass – was man sich in der Tat kaum vorstellen kann - , und: wegen der vielen Fehler bei der Entzifferung der Böll’schen Handschrift und seiner Typoskripte – all das blieb heute – was man verstehen kann, unerwähnt. .

Und: die Ausgabe enthält unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass, darunter Gedichte und Erzähltexte des 19-jährigen Heinrich Böll, die mit erstaunlicher Hartnäckigkeit den Willen des Autors zeigen, Schriftsteller zu werden.

Das Ganze ergibt kein neues Bild von Heinrich Böll, aber ein vollständigeres, sagen wir kontinuierlicheres. Das Bild eines Mannes, der unter dem Krieg gelitten hat, auch, weil er ihn daran hinderte, Schriftsteller zu werden - und der durch dieses Leid ein im wahrsten Sinn des Wortes passionierter Schriftsteller wurde: Literatur begriffen als: Passion. Der eigenen Versehrtheit, des eigenen Leidens, aber auch der Schuld des eigenen Volkes war er sich stets bewusst, dieses Denken und Empfinden prägte sein Werk, aus diesem Geist heraus hat er sich später eingemischt. Und ein streitbares Verhältnis entwickelt zu denen, die in der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien, in der Kirche den Ton angaben.

"Heinrich Böll wird mit dieser Ausgabe kenntlich als eine Person, in der sich die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in all ihren Widersprüchen und Kontroversen repräsentiert. In der Tat: er hat nicht eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geschrieben, aber die Kölbner Ausgabe der Werke Heinrich Bölls kann man lesen als ein literarisches Geschichtsbuch der Bundesrepublik Deutschland", so Ralf Schnell.

Mit seinem Schreiben und Sprechen und Eintreten für Humanität und Menschenwürde war Heinrich Böll immer auch ein Provokateur. Als er 1972 den Nobelpreis für Literatur erhielt – als erster Deutscher seit Thomas Mann 1929 – stand er in Deutschland immer noch im Zentrum ideologischer Grabenkämpfe: als Sympathisant der RAF wurde er beschimpft, nur weil er Begriffe wie Versöhnung und Gnade ins Gespräch gebracht hatte. Hält man sich vor Augen, dass ein ehemaliger Bundespräsident von der CDU, Karl Carstens, Heinrich Böll noch unterstellt hatte, mit seiner Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" ein Buch geschrieben zu haben, das eine Rechtfertigung von Gewalt darstelle - wo doch dieses Buch gerade nach dem Entstehen von Gewalt fragte und dabei die Boulevardpresse ins Kreuzfeuer der Kritik rückte – bedenkt man dies, dann ist nicht ohne Witz, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann - von der CDU – heute in seiner Festrede sagte:
"Seine Erzählung von der 'verlorenen Ehre' steht bis heute paradigmatisch für politischte Literatur im besten Sinne und ist deshalb nach wie vor Schulstoff in den oberen Klassen. Nach dem 'Gruppenbild mit Dame' war diese Erzählung wie auch die Verfilmung durch Volker Schlöndorff die nachhaltigste Berührung mit dem Werk Heinrich Böll. Sein Werk gehört in der Tat zum nationalen Erbe Deutschlands."

Und auch Bernd Neumann selber hatte ein Gespür für das Besondere seiner Rede:

"Damals wäre mir als jungem CDU-Politiker kaum ein Gedanke ferner gewesen, als einmal als Staatsminister eine Laudatio auf Heinrich Böll zu halten. Ich gebe das ehrlich zu..."

Heinrich Böll - der kritisch-sarkastische Chronist und Kritiker der Nachkriegszeit, der Mann mit dem traurigen Hundeblick unter der Baskenmütze - geehrt mit einer 27-bändigen Werkausgabe? Die ist mehr als aller Ehren wert, eine Großtat, ohne Zweifel. Man könnte natürlich auch mit Böll’schem Sarkasmus von einem Klassikergrab ersten Ranges sprechen und darüberhinaus auch für eine kleinere Ausgabe eintreten: zwei, drei Bände mit einigen seiner frühen Erzählungen und Satiren etwa, mit den Romanen "Das Brot der frühen Jahre" und "Ende einer Dienstfahrt" - ein "Böll" für die Bahnhofsbuchhandlungen. Vielleicht kommt das ja noch – damit Heinrich Böll jenseits edler Regalmeter auch wieder gelesen wird.


Verlagshomepage Kiepenheuer & Witsch
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