Gastbeitrag von Prof. Thomas AlbertKunst und Kultur neu ausleuchten

Eine echte Herausforderung: Ein Zurück in die Zeiten vor Corona kann es für Kulturschaffende nicht geben. Wir, die Programmmachenden, sollten mit Kreativität, Mut und vor allem in einem konstruktiven Miteinander neue Perspektiven entwickeln.

Ein Mann im Anzug sitzt mit verschränkten Armen an einem Schreibtisch vor einem großen Bild eines leeren Konzertsaales.
Prof. Thomas Albert (© Patric Leo)
Prof. Thomas Albert, 1953 in Bremen geboren, spielte nach seinem Violinstudium in verschiedenen Formationen, bis er 1978 sein eigenes Ensemble ins Leben rief. 1986 gründete er mit der Akademie für Alte Musik Bremen das erste Ausbildungsinstitut für Alte Musik im deutschen Hochschulwesen. Seit 1989 leitet er als Gründungsintendant das Musikfest Bremen.

Es gibt es, unser Publikum. Seit Jahrzehnten hat es aber wohl keine so kulturfeindlichen Zeiten wie in den letzten zwei Jahren gegeben. Corona hat deutliche Spuren hinterlassen in den Opernhäusern, Theatern und Konzerthäusern bis hin zu den Kinos – kurz: bei Veranstaltungen aller Art. Die Corona-Krise hat im Kulturbereich vorhandene Stärken und Schwächen deutlicher herauskristallisiert als in anderen Bereichen. Zudem hat die Pandemie bei vielen Menschen die Auswahlkriterien der ja durchaus vorhandenen Angebote verengt: Ziehen nur noch Spektakuläres, Stars und Schulstoff? Dies fragte unlängst Vasco Boenisch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zum Thema Publikumsschwund bei nicht so angesagten Veranstaltungen. Vielleicht ist das etwas zu verkürzt. Corona ist noch nicht vorbei, Schlagworte wie „Sommerwelle“ haben genauso eine bremsende Wirkung wie Verschiebungen von Konzerten über nunmehr zwei Saisons. Überlagert werden diese Unsicherheiten zudem von der stark polarisierenden Frage „mit Maske oder ohne“. Die Gründe, warum Veranstaltungen derzeit besucht werden oder eben halt nicht, sind also sehr vielfältig. Aber: Mit den damit einhergehenden entsprechenden Veränderungen und Erwartungshaltungen müssen in meinen Augen wir, die Programmmacherinnen und -macher, mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit reagieren.
Natürlich braucht es Bewährtes und Vertrautes, aber vielleicht geht das auch, ohne dass das Angebot zu sehr allein der Nachfrage folgt? Es gilt mehr denn je, die Neugier zu wecken, um die unmittelbaren wie unerwarteten Erfahrungen eines Konzerterlebnisses zu fördern. So finden sich in den Programmen des Musikfest Bremen im August immer wieder Überraschungen: Verdis „Rigoletto“ oder Bruckners 7. Sinfonie im Originalklang genauso wie die Repertoires aus der Zeit Bachs an den einmaligen historischen Instrumenten im Orgelparadies rund um Bremen im Nordwesten. Entsprechungen im Hier und Heute finden ebenso aktuellen Widerhall mit der Uraufführung von Fazıl Says 5. Sinfonie oder dem Projekt „What’s Next Vivaldi?“ der Geigenvirtuosin Patricia Kopatchinskaja und Il Giardino Armonico, die Violinkonzerte des barocken Altmeisters mit eigens in Auftrag gegebenen Werken von zeitgenössischen italienischen Komponisten konfrontieren. In heutigen Zeiten ist die Heranführung an Musik in Kindergarten und Schule für Kinder und Jugendliche keine Selbstverständlichkeit mehr. Daher ist jede und jeder Einzelne von uns viel stärker aufgefordert, der jüngeren Generation vermittelnd Türen zu öffnen. Denn wer nicht als junger Mensch per unmittelbar persönlichem Erlebnis und einer daraus bestenfalls resultierenden Eigeninitiative selbst „dran bleibt“, der muss später vielleicht wehmütig konstatieren: „Wenn ich doch nur gewusst hätte, was mir bisher alles entgangen ist.“ Mit der eindrücklichen Metapher „Wir sollten unseren Kindern wieder Kathedralen zeigen“ hat vor Jahren der ehemalige Berliner Kultursenator Christoph Stölzl ein großes Ziel ausgegeben. Das gilt in meinen Augen längst auch für die Erwachsenenwelt. Eine fachlich kompetente, aber verständliche Kommunikation sollte vermittelnd an Kunst heranführen und ermutigen zur sinnfälligen Selbsterfahrung des einmaligen Live-Erlebnisses im Opernhaus, Theater oder Konzertsaal. Denn wie hat es der Romanist Ernst Robert Curtius einmal so schön formuliert? „Nur wer weiß, sieht mehr.“ Möge unser Publikum hoffentlich jedes Mal berührt sein, wenn es danach wieder einmal anders „aus der Kathedrale“ herauskommt, als es hineingegangen ist!

Aus dem Magazin, Ausgabe August 2022