Dienstag, 30. April 2024

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Psalmen und Motetten in den Schweizer Bergen
Lamaraviglia singt in Dialekten

Nur einstimmigen Psalmengesang duldete der Reformator Johannes Calvin im Genfer Gottesdienst. Andernorts schätzte man den "Hugenotten-Psalter" im anspruchsvollen Motettensatz – in manchem Schweizer Bergdorf auf Italienisch oder Rätoromanisch, wie die Debüt-CD des Ensembles Lamaraviglia vorführt.

Am Mikrofon: Bernd Heyder | 13.06.2021
    Zwei Frauen und vier Männer stehen und sitzen in einem Raum mit vielen Büchern in Regalen. Sie scheinen sich angeregt zu unterhalten, die meisten blättern in Büchern, alle tragen schwarze Konzertkleidung.
    Das Ensemble Lamaraviglia wurde vor gut 10 Jahren von der Mezzo-Sopranistin Stephanie Boller (1. v.r.) gegründet (Jojo Kunz)
    Musik: Genfer Psalter - Psalm 105 "Ludè touts Divin’ essentia"
    Der gestrenge Reformator Johannes Calvin verbannte 1561 nicht nur alle Kreuze und Bilder aus den Kirchen der Stadtrepublik Genf, er ließ prinzipiell auch nur noch eine Form von gottesdienstlicher Musik zu: den einstimmigen Gesang der 150 Psalmen aus dem Alten Testament.
    In der gereimten französischen Versübertragung des Dichters Clément Marot und des Theologen Théodore de Bèze erschienen sie mit eingängigen Lied-Melodien 1562 im Druck, und sie verbreiteten sich schnell im protestantischen Europa. Fast zeitgleich entstanden auch mehrstimmige Vertonungen dieses "Genfer Psalters" oder "Hugenotten-Psalters", dessen Reimverse man außerdem in viele andere Sprachen übertrug.
    In den reformierten Gegenden der Schweiz wurde dieses schillernde Repertoire bald in allen vier gängigen Landesprachen gesungen – davon gibt das Ensemble "Lamaraviglia" auf seiner Debüt-CD einen schönen Eindruck.
    Musik: Claude Goudimel - Psalm 25 "A toy, mon Dieu, mon cœur monte"
    Wie Johannes Calvin war auch der Komponist Claude Goudimel Franzose und bekennender Protestant. 1572 wurde er in Lyon in der sogenannten Bartholomäusnacht ein Opfer der Hugenottenverfolgungen.
    Wiederholt hat sich Goudimel mit der mehrstimmigen Vertonung des Genfer Psalters beschäftigt; am populärsten wurden seine schlichten vierstimmigen Sätze "Note gegen Note", die 1564 erschienen. Hier interpretiert Lamaraviglia daraus den 25. Psalm, "A toy, mon Dieu, mon cœur monte …" – "Zu dir ich mein Herz erhebe und, Herr, meine Hoffnung richt’".

    Der Klang der Basler Schule

    Seit gut zehn Jahren gibt es das Schweizer Vokalensemble "Lamaraviglia". Mit der Namensgebung bleibt die Mezzosopranistin Stephanie Boller als Ensemblegründerin absichtsvoll im Vagen: das italienische "maraviglia" oder auch "meraviglia" bedeutet sowohl "Wunder" als auch "Verwunderung".
    Wie Stephanie Boller haben auch ihre Mitsängerinnen und -sänger historische Aufführungspraxis an der renommierten Schola Cantorum in Basel studiert. Dorthin kamen sie aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich, aus Brasilien und den USA.
    Zur Stammbesetzung aus zwei Sopranstimmen, zwei Countertenören, zwei Tenören und einem Bass gesellen sich in der Aufnahme noch drei weitere Stimmen. Nie sind aber mehr als acht von ihnen zugleich zu hören, denn in der Regel besetzt Stephanie Boller in den mehrstimmigen Werken jede Partie einfach.
    Den Ensembleklang zeichnet eine große Homogenität aus: Die Spitzentöne klingen niemals scharf, und gäbe es nicht die detaillierten Besetzungsangaben zu jedem Stück im Beiheft, wäre kaum zu unterscheiden, ob den Altpart eine Frau singt oder eine Männerstimme im Falsett.
    Musik: Jan Pieterszoon Sweelinck - Psalm 25 "A toy, mon Dieu, mon cœur monte"
    In einem wärmeren Licht als bei älteren Vergleichsaufnahmen leuchten hier auch die prominentesten Vertonungen des Genfer Psalters. Jan Pieterszoon Sweelinck hat sie komponiert, der katholische Organist an der Amsterdamer Oudekerk, der dort seit der Reformation allerdings nur noch außerhalb der Gottesdienste spielen durfte. Seine kunstvoll komponierten Cantus-firmus-Motetten, die er ursprünglich für ebenso fromme wie vornehme häusliche Musikzirkel in den Niederlanden schrieb, verwenden die originalen französischen Versreime.

    Goudimel und Sweelinck polyglott

    In vier Bänden erschienen Sweelincks vier- bis achtstimmige Psalmkompositionen zwischen 1604 und 1621 in Amsterdam. Längst lagen da neben dem französischen Original auch schon Nachdichtungen des Reim-Psalters in anderen Sprachen vor; schließlich legte der Protestantismus immer schon Wert darauf, die christliche Lehre allen Gläubigen in ihrer Muttersprache nahezubringen.
    Das gibt der CD von Lamaraviglia den besonderen Clou: Denn hier sind Genfer Psalmweisen und ihre mehrstimmigen Bearbeitungen durch Goudimel und Sweelinck in allen vier Schweizer Landessprachen zu hören, basierend auf originalen Quellen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert: also auf Französisch, Deutsch, Italienisch und auf Rätoromanisch – genauer gesagt, in romanischen Dialekten, die in verschiedenen Teilen Graubündens gesprochen werden.
    In der Sprache des Oberengadins sang das Ensemble zu Beginn der Sendung schon die ersten Verse aus dem 105. Psalm, in der Nachdichtung des Juristen Lurainz Wietzel von 1661. Der Beginn des 100. Psalms, "Ihr Völker auf der Erden all, / dem Herren jauchzt und singt mit Schall" klingt auf Rätoromanisch so:
    Musik: Genfer Psalter - Psalm 100 "Vus chi sur terra stains, cantè"
    In der Gemeinde Zuoz, gut 15 Kilometer nordöstlich von St. Moritz, schaffte man 1707 alle 150 Psalmmotetten von Sweelinck in Amsterdamer Druckausgaben an, um daraus die Noten abzuschreiben und mit den entsprechenden Texten im lokalen Idiom Putèr zu unterlegen.

    Musik für die Berge

    "Die rätoromanische Übertragung erdet Sweelincks Musik und offenbart ihre tiefe Innerlichkeit und Stärke einerseits und die berührende Intimität und Zartheit andererseits", so schreibt Stephanie Boller im Begleittext zur Einspielung. Dabei setzt sie den Beginn des 121. Psalms in den Kontext der eindrucksvollen Engadiner Gebirgslandschaft: "Mein Augen ich gen Berg aufricht, / da ich von oben ’rab / Hülf zu gewarten hab".
    Musik: Jan Pieterszoon Sweelinck - Psalm 121 "In ôt hae vers ils munts guardo"
    Mit Hingabe kosten die Sängerinnen und Sänger von Lamaraviglia in Sweelincks Vertonungen den Wechsel der Vokalklänge aus, der die romanischen Sprachen prägt – ob nun im französischen Original oder wie hier in den Versen aus Zuoz im Oberengadin.
    Wendet man sich von dort Richtung Südwesten, gelangt man hinter St. Moritz ins Bergell, eine weitere Bündner Bergregion. Seit dem 16. Jahrhundert wurde sie protestantischen Glaubensflüchtlingen aus Italien zur neuen Heimat. Hier wirkte zu Anfang des 18. Jahrhunderts Andrea Giuseppe Planta als reformierter Pfarrer; seine italienische Reimübertragung des Genfer Psalters erschien 1740 im Druck.
    In dieser Sprachversion wird die stilistische Verwandtschaft der vierstimmigen Sätze von Claude Goudimel mit der populären italienischen Kanzonetten-Literatur der Zeit sofort greifbar. Im 33. Psalm, "Wohlauf, ihr Heiligen und Frommen", besetzt Stephanie Boller ihr Ensemble zur Abwechslung mit zwei Stimmen pro Partie.
    Musik: Claude Goudimel - Psalm 33 "Hor su, vio spirti giust‘ e santi"
    In welcher Textfassung die Weisen des Genfer Psalters zu singen waren und auch in welchem Tempo, darüber gab es im Laufe der Zeit immer wieder Kontroversen. Auf die extrem langsamen Tempi, die für manche Gemeinde historisch dokumentiert sind, lässt sich das Ensemble Lamaraviglia nicht ein – es bleibt immer in einem melodisch-rhythmischen Fluss, der den Textgehalt auch rhetorisch schlüssig vermittelt.

    Die Aura kirchlichen Gesangs entsteht hier aber durchaus. Dabei hat das Ensemble kein Gotteshaus als Aufnahmeort gewählt, sondern das unterirdisch erbaute Waldenburg-Studio im Schweizer Kanton Basel-Land, das auf Produktionen mit Alter Musik spezialisiert ist.
    In seiner von Holzflächen dominierten Auskleidung kommt der Raum der Atmosphäre in mancher Bündner Dorfkirche entgegen. Dass die Zuhörenden den Eindruck haben, in solch einer Kirche zu sitzen, dafür sorgen aber letztlich die Raffinessen der Aufnahmetechnik. Man lauscht den Vokalstimmen auf wenigen Metern Distanz, ohne ein Detail der subtilen Interpretationen zu verpassen.

    Gekonnt altfranzösisch

    Gedanken haben sich die Sängerinnen und Sänger auch über die historisch korrekte Aussprache gemacht. Das wird deutlich, wenn man die jeweils im Original wiedergegebenen Gesangstexte im Booklet verfolgt und im Französischen teilweise andere Vokallautungen hört, als man sie heute erwartet – und auch so manches "S" am Wortende.
    Musik: Claude Goudimel - Psalm 8 "O nostre Dieu et Seigneur aimable"
    Mit zwei Beispielen ist die einflussreiche deutsche Übersetzung des Genfer Psalters durch den Königsberger Humanisten Ambrosius Lobwasser auf der CD vertreten. Diese Nachdichtung erschien erstmals 1573 und kam auch in den reformierten Regionen der deutschsprachigen Schweiz schnell in Gebrauch.
    Den hymnischen 150. Psalm stellt Lamaraviglia auf Deutsch in der einstimmigen Genfer Fassung und im vierstimmigen Satz von Claude Goudimel vor.
    Musik: Genfer Psalter / Claude Goudimel - Psalm 150 "Lobet Gott im Himmelreich"
    Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn hier im 150. Psalm vom Gotteslob mit Posaunen und Harfen, Pauken, Flöten und Orgeln gesungen wird, der Genfer Reformator Calvin gerade dies aber für seine Liturgie vehement ablehnte.
    Andere Einspielungen lockern dieses Repertoire daher auch gerne mit instrumentalen Intermezzi auf – etwa für Laute oder Orgel, die dann auch gelegentlich als Vokalbegleitung herangezogen werden. Lamaraviglia bleibt dagegen konsequent a cappella.

    Instrumentaleffekte a cappella

    Die CD von Lamaraviglia bietet in den 63 Minuten Spieldauer auch rein vokal genug Abwechslung durch die verschiedenen Sprachen und Satzweisen. Und am Ende ahmen die acht Singstimmen in Sweelincks Fassung des 150. Psalms einen Teil der dort erwähnten Instrumente wenigstens lautmalerisch nach. Sie tun das so keck, dass man meint, der französische Chanson-Meister Clément Janequin habe hier dem eine Generation jüngeren Amsterdamer Organisten beim Komponieren die Hand geführt.
    Musik: Jan Pieterszoon Sweelinck - Psalm 150 "Or soit loué eternel"
    Psalms and Motets from Renaissance Switzerland
    Genevan Psalter, Goudimel, Sweelinck
    Ensemble Lamaraviglia
    Leitung: Stephanie Boller
    Claves Records 50-3008 EAN 7619931300825