Neu im Kino

Von Außenseitern und Exzentrikern

Benjamin Lutzke als Matteo in einer Szene des Films "Chrieg" von Simon Jaquemet
Benjamin Lutzke als Matteo in einer Filmszene von "Chrieg" © Picture Tree International
Von Christian Berndt · 23.04.2016
Jugendliche, die es nicht leicht haben, kämpfen um Anerkennung und ein exzentrisches Schachgenie wird zur wirksamen Waffe im Kalten Krieg. "Chrieg", "Bauernopfer" und "Lenas Klasse" kommen nächste Woche in die Kinos.
Matteo treibt sich am Zürcher Hauptbahnhof herum, hier vertickt der 16-jährige Schüler Drogen. Die Eltern sind mit ihrem Neugeborenen beschäftigt und mit dem renitenten Sohn überfordert. Erst als Matteo das Baby einmal in den Wald entführt, wird es den Eltern zu bunt – und Matteo wird in ein Erziehungscamp auf einer einsamen Almhütte geschickt. Dort angekommen erwartet ihn eine Überraschung: Der einzige Erzieher ist ein Säufer, die jugendlichen Delinquenten haben vollständig die Kontrolle übernommen. Matteo wird sofort einem brutalen Initiationsritus unterworfen und angekettet wie ein Hund:
"Echte Hunde fressen Scheiße. Willst Du nicht essen?" – "Bell! Wollen wir ihn durchficken?" – "Was ist los? Jetzt bell doch mal." – "Wuff, wuff!"

Raues und direkt inszeniertes Filmdebüt

Schließlich hat Matteo das Aufnahmeritual bestanden und gehört dazu. Im Schweizer Film "Chrieg" erlebt man das Geschehen – rau und direkt – unmittelbar aus Matteos Perspektive. Die Jugendlichen gehen auf Raubzüge, leben in Anarchie, brutal, aber solidarisch - Matteo erfährt hier eine bisher ungekannte Geborgenheit. Eruptive Gewalt wie spielerisches Raufen lässt Regisseur Simon Jaquemet auf den Zuschauer wirken, ohne auf verständnisvolle Einfühlung zu setzen. Emotional hält "Chrieg" nüchtern Distanz, die von Laien gespielten Jugendlichen wirken fremd, aber authentisch. Ein konsequent und schlüssig inszeniertes Debüt, das mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde.

Chrieg
Schweiz 2014 - Regie: Simon Jaquemet, Darsteller: Benjamin Lutzke, Ste, Ella Rumpf, Sascha Gisler, John Leuppi - 100 Minuten, ab 16 Jahren

Sport als Krieg mit anderen Mitteln

Noch schwieriger ist die Einfühlung in den Helden des amerikanischen Spielfilms "Bauernopfer – Spiel der Könige". Bobby Fischer war der vielleicht beste Schachspieler aller Zeiten, aber auch ein nicht weniger großer Exzentriker und paranoider Verschwörungstheoretiker. Beginnend mit Fischers Kindheit in den 50er-Jahren in Brooklyn, wo der Sohn einer des Kommunismus verdächtigten Mutter früh Verfolgungsängste entwickelte, aber mit 15 Jahren zum jüngsten Schach-Großmeister aller Zeiten wurde, konzentriert sich der Film dann auf das sogenannte "Match des Jahrhunderts": Das Weltmeisterschaftsfinale in Reykjavík 1972. Fischer ist der erste Amerikaner in einem Schach-WM-Finale und tritt gegen den Russen Boris Spasski an. Doch gleich zu Beginn gefährdet Fischer die Endrunde mit absurden Forderungen:
"Ich spiele nicht, bis all meine Bedingungen erfüllt sind. Ich will anderthalb Meter Abstand zwischen mir und dem Publikum, es ist fast so, als höre ich deren Gedanken."
Fischer glaubt auch, dass er abgehört wird. Der neurotische Querkopf, überzeugend gespielt von Tobey Maguire, ist alles andere als ein Sympathieträger. Mit der realen Biografie Fischers geht Regisseur Edward Zwick frei um und fokussiert den Film auf die historische Konstellation mitten im Kalten Krieg. Damals wurde die Weltmeisterschaft zum Kampf der Systeme aufgeblasen, wobei Fischer die Erwartungen mit seinem Eigensinn immer wieder durchkreuzte. US-Außenminister Henry Kissinger persönlich rief ihn an, um ihn zum Weiterspielen zu bewegen.
Mit Sinn für Ironie zeichnet Zwick in "Bauernopfer" den wahnwitzigen Medienhype nach und endet mit dem Titelgewinn 1972 – danach nahm Fischer nicht mehr an Wettkämpfen teil und machte stattdessen durch obskure Verschwörungstheorien von sich reden. Die skurril-verschrobene Geschichte ist unterhaltsam, eher plakativ als tiefschürfend inszeniert, erzählt aber sehr anschaulich vom Sport als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Bauernopfer – Spiel der Könige
USA 2014 - Regie: Edward Zwick, Darsteller: Tobey Maguire, Liev Schreiber, Michael Stuhlbarg - 115 Minuten

Kraftvolle und berührende Sozialstudie

Eine Außenseiterin ist auch die Heldin des russisch-deutschen Films "Lenas Klasse". Die 16-jährige Lena leidet seit früher Kindheit an einer Muskelerkrankung und muss im Rollstuhl sitzen. Nach Jahren des Heimunterrichts darf sie endlich wieder in die Schule, allerdings nur in eine Sonderklasse. Hier sollen behinderte und lernschwache Schüler die Chance erhalten, sich für die Regelklassen zu qualifizieren. Aber das ist bei derart unmotivierten Lehrern illusorisch. Bei den Sonderschülern findet Lena jedoch solidarische Aufnahme, und der hübsche Mitschüler Anton ist ziemlich angetan von ihr. Aber als sich die beiden verlieben und von Antons Mutter beim Sex erwischt werden, gibt es Ärger: Die Mutter duldet kein behindertes Mädchen als Freundin ihres Sohnes, wütend beschimpft sie Lenas Mutter.
Der russische Regisseur Ivan I. Twerdowskij führt in "Lenas Klasse" bedrückend die Ablehnung vor, die von der Norm abweichende Jugendliche in Russland erfahren. Aber der Film schildert gleichzeitig kraftvoll die Selbstbehauptung der Sonderschüler gegenüber den ignoranten Erwachsenen. So furchtbar auch ist, was Lena zu erleiden hat, so wenig ist der toll gespielte Film eine soziale Problemstudie. Stattdessen ein Filmdebüt, das mit vitalem Realismus, romantisch und brutal, aufrüttelt und berührt.

Lenas Klasse
Deutschland, Russland 2014 - Regie: Ivan I. Twerdowskij, Darsteller: Nikita Kukuschin, Philipp Awdejew, Mascha Poeshaewa - 93 Minuten, ab 12 Jahren

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