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Tod auf Rezept

Sterbehilfe gehört zu den heikelsten politischen Themen unserer Zeit. Seitdem die Organisation Dignitas von der Schweiz aus versucht, dem liberalen Recht der Eidgenossen auch in den Nachbarländern Geltung zu verschaffen, ist in Deutschland die Debatte wieder aufgeflammt. In den Niederlanden wurde die Sterbehilfe mit ärztlicher Hilfe legitimiert. Kerstin Schweighöfer berichtet über den Umgang der Niederländer mit einem Tabuthema:

21.11.2007
    Es war sieben Uhr abends, als der Hausarzt eintraf, Nelleke Dumée erinnert sich noch genau: "Die Reise kann beginnen”, hatte ihre Mutter gesagt. Im Schlafzimmer brannten Duftkerzen, überall standen Rosen, und aus dem CD-Spieler ertönte Panflötenmusik.

    "Meine Mutter war eine sehr stolze Frau", erzählt Nelleke.

    "Es war furchtbar, wie sehr sie leiden musste. Wenn Gott mich liebt, versteht er mich, sagte sie. In der Bibel stehe zwar, du sollst nicht töten, aber nirgends stehe: Du darfst nicht würdig sterben. Deshalb wollte sie Sterbehilfe, wir haben das respektiert. Jeder Mensch darf so leben wie er will, und ich finde, er hat auch ein Recht darauf, so zu sterben, wie er will.” "

    Die 50jährige Niederländerin ist dankbar darüber, dass ihre krebskranke Mutter die Möglichkeit hatte, Sterbehilfe zu bekommen - ganz legal, in aller Offenheit.

    Auch in den Niederlanden ist Sterbehilfe zwar nach wie vor strafbar. Doch wenn sich ein Arzt an bestimmte Richtlinien hält, kann die Staatsanwaltschaft von einer Strafverfolgung absehen: So etwa muss der Arzt einen Kollegen zu Rate ziehen und eine der regionalen Meldestellen für Sterbehilfe umgehend über den Fall informieren. Der Patient muss sich in einer aussichtslosen, unerträglichen Lage befinden und - ganz wichtig - den Wunsch nach Sterbehilfe mehrfach selbst deutlich geäußert haben.

    Ein so genannter Sterbehilfetourismus wie in der Schweiz ist bei dieser Regelung ausgeschlossen: "Arzt und Patient müssen sich gut kennen und ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben", betont der Amsterdamer Hausarzt und Universitätsprofessor Patrick Bindels:

    ""Die emotionale Belastung für die Hausärzte ist enorm, keiner von uns wartet darauf, Sterbehilfe zu leisten - das kann ich Ihnen versichern. Ich hatte einen 80jährigen Patienten mit Lungenkrebs, ich konnte nichts mehr für ihn tun. Es blieben ihm nur noch drei, vier Tage, die wollte er sich ersparen. Ich habe seinen Wunsch respektiert. Aber glauben Sie mir, es wäre mir viel lieber gewesen, wenn er diese drei Tage auch noch durchgehalten hätte.”"

    Rund 80 Prozent der Bürger begrüßen es, dass sie die Möglichkeit haben, auch ihr Lebensende selbst zu regeln. In den liberalen Niederlanden hatten sich mündige Patienten dafür seit Jahrzehnten stark gemacht. Inzwischen werden viele Hausärzte von ihren Patienten sogar regelrecht unter Druck gesetzt: In Rollenspielen lernen sie, mit ihnen umzugehen - und Anfragen abzulehnen. Denn nur jeder zehnte Fall wird erhört:

    ""Sterbehilfe mag für viele Niederländer ein Recht geworden sein, auf das sie pochen können", so Hausarzt Bindels. "Doch kein Arzt kann gegen seinen Willen gewungen werden, sie zu leisten."

    Eine Sterbehilfewelle hat die Regelung nicht ausgelöst - ganz im Gegenteil: Die Zahl der Sterbefälle, bei denen Sterbehilfe geleistet wird, ist seit 2001 gesunken von 2,6 Prozent auf 1,7.

    Dass die Niederländer dies so genau wissen, liegt an weltweit einzigartigen Untersuchungen, die das Gesundheitsministerium alle fünf Jahre anonym unter Ärzten durchführen lässt.

    Dabei stellt sich jedes Mal heraus, dass es auch zu ungefragter Sterbehilfe kommt. 2005 waren es 500 Fälle. Strafrechtlich ist das Mord. Doch dabei geht es um schwerstbehinderte Neugeborene oder Krebspatienten im Endstadium, die das Bewusstsein verloren haben. Im Ausland führt das immer wieder zu Schlagzeilen, dass in den Niederlanden Hunderte von Menschen gegen ihren Willen getötet werden. "Unsinn", schimpft Professor Bindels: Mit moralischen Dilemmata wie diesen würden Ärzte in alle Welt konfrontiert werden, doch da werde alles unter den Teppich gekehrt:

    "Wir Niederländer gehen diesem Problem nicht aus dem Weg. Wir geben unser Äußerstes, um es nicht so weit kommen zu lassen, aber für den Fall, dass es so weit kommt, haben wir ein Gesetz - und das ist gut so. Sterbehilfe ist auch in anderen Ländern ein Problem. Doch dort wird sie tabuisiert. Bei uns hingegen kann offen darüber geredet werden, und das ist doch ein wichtiger Unterschied."