Zukunft des Ökolandbaus

Hightech und Nachhaltigkeit sind kein Widerspruch

34:00 Minuten
Zwei Menschen stehen in Schutzanzügen in einem Gewächshaus.
Rainer Carstens (l) im vier Hektar großen Bio-Gewächshaus auf seinem „Westhof“ an der schleswig-holsteinischen Westküste. © Grenzgänger Journalistenbüro
Von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster · 30.03.2021
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Der Absatz ökologisch erzeugter Lebensmittel wächst rasant in Deutschland. Doch Wachstum allein reicht nicht, um den Bedarf zu decken. Die biologische Landwirtschaft muss sich wandeln. Steht das eigene Öko-Leitbild der Modernisierung im Weg?
Rainer Carstens schlüpft in den weißen Ganzkörperanzug, desinfiziert seine Hände, streift Plastikschützer über die Schuhe. Erst dann betritt der Bio-Landwirt sein Gewächshaus. Oder besser: seine Gewächs-Halle.
"Wir können jetzt leider nicht ganz bis ans Ende gucken, weil wir das Gewächshaus geteilt haben, das sind hier normalerweise 240 Meter Länge, also ziemlich lang. Und es gibt nach links und rechts jeweils 75 Meter lange Reihen hier. Und hier stehen wir praktisch in unserer Tomatenkultur."
Reihe, um Reihe – Tomaten. Zwei Wochen zuvor gepflanzt, ziehen sie sich jetzt an langen Schnüren Richtung Glasdecke.
"Wir haben jetzt hier dreieinhalb Stück auf einen Quadratmeter, mal zwei Hektar, 20.000 qm sind das hier, Gott o Gott, da kommt aber was auf uns zu, also 80.000 Pflanzen ungefähr, die hier jetzt stehen."

80.000 Tomatenpflanzen – und alle bio. Weiter hinten im Gewächshaus, getrennt durch eine dicke Plane, wachsen die Bio-Paprika. Vor über 30 Jahren hat Rainer Carstens den "Westhof" an der schleswig-holsteinischen Westküste umgestellt auf ökologischen Landbau. Genauer: Bioland. Mit 60 Hektar Ackerfläche hat er angefangen. Heute sind es 1000 Hektar, dazu Gewächshäuser, eine Bio-Frosterei, Windkraft, Photovoltaik und eine Biogas-Anlage.
"Es ist das Jahr, in dem wir das höchste Bio-Plus erzielt haben, wir hatten ein Marktwachstum von 16,4 Prozent. Und das hängt auch mit Corona zusammen, das muss man ganz klar so sagen, die Leute kochen wieder mehr zuhause, sie kaufen auch wieder mehr selbst Lebensmittel ein."
Freut sich Alexander Gerber vom Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft. Der Verband vertritt kleine und große Bio-Höfe, aber auch Verarbeiter und Händler. Die Branche boomt. Der Absatz wächst rasant. Und auch die heimische Produktion nimmt Fahrt auf. Rund zehn Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche wird derzeit ökologisch bewirtschaftet. 20 Prozent Ökolandbau bis 2030 peilt die Bundesregierung an. Die EU will noch einmal fünf Prozent mehr.
"Wer hätte vor drei, vier, fünf Jahren gedacht, dass die EU selbst 25 Prozent Ökolandbau als Ziel ausgibt? Wer hätte gedacht, dass wir im Markt solche Wachstumsraten haben?"
Doch reicht bloßes Wachstum oder braucht es auch Wandel? Ein einfaches "Weiter so!" wird es auch für den Ökolandbau langfristig nicht geben, glaubt Alexander Gerber:
"Ich selbst sage immer so ein bisschen provozierend und ketzerisch, dass wir, was die Landwirtschaft angeht, eigentlich immer noch fast im Mittelalter sind, wir haben immer noch Felderwirtschaft als grundlegendes Prinzip, das heißt eine Abfolge in der Fruchtfolge von verschiedenen Getreidearten. Blattfrüchten usw. aber eben von Jahr zu Jahr hintereinander."
In der Gewächshalle von Westhof Bio rückt eine Frau in grüner Arbeitshose ein paar Kisten zurecht, macht sich an den Tomaten zu schaffen. Rainer Carstens deutet auf die Blattachse einer Pflanze, dort wo die Seitentriebe abzweigen.
"Diese kleinen Geize, die müssen alle raus, damit die Tomaten nicht zu buschig werden, das ist jede Menge Pflegearbeit. Und ich sage immer: Alle denken immer, dass Tomatenpflücken ist das Anstrengende, nein, das da hinzukriegen zum Pflücken, das ist das Anstrengende und das sind auch 70 Prozent der Arbeit."
Handarbeit und Hightech – hier, im Gewächshaus wird beides benötigt.

Der Computer liefert Daten, der Mensch entscheidet

"Man sieht hier überall Messdosen und so was, da wird Luftfeuchtigkeit gemessen, da wird Temperatur gemessen, da wird die Lichtintensität gemessen. Das beurteilt der Computer alles und macht dann eine Lüftungsstrategie und eine Klimastrategie, sagt, wie viel Wasser braucht die Pflanze, das wird im Grunde genommen alles hier geregelt."
Der Computer schlägt vor. Am Ende aber entscheidet die Gärtnerin. Und zwar schnell. Denn die Wachstumsgeschwindigkeit unter Glas liegt um ein Vielfaches über der im Freiland. Das gilt nicht nur für Tomaten und Paprika, sondern auch für Schädlinge. Deshalb wächst am Beginn jeder Tomatenreihe eine Aubergine als Zeigerpflanze. Sie zieht Schädlinge an, gegen die dann wiederum Nützlinge zum Einsatz kommen. Chemische Pflanzenschutzmittel sind tabu. Und die Tomaten und Paprika wachsen im Marschboden, nicht auf künstlichem Substrat.
"Wir wollen unseren Boden über Generationen ertragfähig halten, das heißt, wir müssen unseren Boden, wir müssen unser Bodenleben pflegen. Und da kommt Substrat-Kultur natürlich gar nicht infrage, denn wenn sie hier Substrat-Kultur hätten, hätten sie hier überall weiße Folie liegen, und der Boden, der da drunter ist, wäre tot."
Auch auf seinen 1000 Freiland-Fläche wird das Gemüse nach Bioland-Richtlinien angebaut. In sechsjähriger Fruchtfolge: Kleegras bzw. Blühwiese, Kohl, Getreide, Möhren, Erbsen. Eine Biogas-Anlage verwandelt die pflanzlichen Produktionsreste des Betriebs in Strom und Wärme. Das CO2, das entsteht, wird gereinigt und im Gewächshaus von den Tomaten "veratmet".
Die Gärreste aus der Anlage kommen als organischer Dünger wiederum den Pflanzen zugute. Wirtschaften im Energie- und Nährstoff-Kreislauf, das ist das Ziel. Seit 2015 produziert die "Westhof Bio"-Gruppe energie-neutral. Trotz Gewächshaus. Rainer Carstens deutet in die Höhe, zur gläsernen Decke.
"Je höher das Gewächshaus ist, desto energiesparender ist es eigentlich. Man denkt ja sonst immer: Wenn ich einen hohen Raum habe, muss ich viel heizen. Aber hier ist es genau umgekehrt: Ich habe hier einen hohen Raum und ich brauch dann weniger lüften, und werde dadurch weniger Energie verbrauchen."


In der Halle neben dem Gewächshaus stapeln sich unzählige Kisten mit Gemüse. Im zeitigen Frühjahr sind das vor allem noch Rote Beete, Kohl und Möhren. Nachschub für die großen Handelsketten: 2019 liefert das Unternehmen 2300 Tonnen Tomaten.
30.000 Tonnen frisches Gemüse, 10.000 Tonnen Tiefkühlware. Unterm Strich steht ein Umsatz von 50 Millionen Euro. 1989, bei der Umstellung auf Ökolandbau, waren solche Dimensionen undenkbar:
"Und so bin ich von einem ins andere gestolpert, sag ich jetzt einfach mal. Über den Anbau und wo bleibst du denn mit den Produkten? Absatz gab es nicht, musste man sich einen Absatz suchen, so bin ich dann in die Frischvermarktung eingestiegen, dann gab es andere Absatz-Defizite, sage ich mal, so bin ich in die Tiefkühlung gekommen und so bin ich immer weiter auch in die Vermarktung hineingestolpert, ohne dass ich das eigentlich wollte, ehrlich gesagt. Aber es ist eben so passiert."
Heute arbeiten Carstens vier Kinder mit im Unternehmen, außerdem 130 Festangestellte und rund 100 Saisonkräfte. Nichts, was Rainer Carstens und seine Mitstreiter entwickelt haben, gab es "von der Stange". Jedes Projekt wurde individuell auf den Betrieb zugeschnitten.
"Ich sage immer: Für jedes Projekt, das wir neu machen, brauchen wir drei Lehrjahre und wenn wir das aber so weit haben, dann geht das in der Regel auch."
Tomatenpflanzen in einem Gewächshaus.
Bis zu 16 Meter wachsen die Tomatenpflanzen im Gewächshaus von Rainer Carstens.© Grenzgänger Journalistenbüro

Zu wenig landwirtschaftliche Fläche wird ökologisch genutzt

Rund 35.000 Höfe wirtschaften hierzulande ökologisch, auf 1,7 Millionen Hektar Acker- und Weidefläche. Das sind 13,4 Prozent aller Höfe und 10,2 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Zahlen, die Alexander Gerber froh stimmen. Der 54-Jährige ist eine Art "Bio-Multi-Funktionär". Er ist im Vorstand beim Bund Ökologische Landwirtschaft, ebenso beim Anbau-Verband Demeter. Und auch beim deutschen Ableger des Forschungsinstituts für biologischen Landbau.
"Wenn man bedenkt, dass innerhalb von fünf Jahren der Markt um ein Drittel gewachsen ist, da ist da dann doch relativ viel Schub und Energie dahinter. Und das macht Hoffnung, dass sich etwas ändert."
Dass mehr konventionell wirtschaftende Landwirte den Schritt Richtung Umstellung wagen. Und dass Neu-Bauern die Chance auf einen Einstieg bekommen. Derzeit sind geeignete Landwirtschaftsflächen Mangelware. Der Einstieg von Kapitalgesellschaften ins Agrobusiness, der Boom der Energieerzeugung vom Acker – das alles hat die Pachtpreise in den letzten Jahren stark steigen lassen. Zurzeit drängen verstärkt Photovoltaik-Farmen mit großem Flächenbedarf in ländliche Bereiche vor. Und treiben dort die Pachtpreise weiter in die Höhe. Keine einfachen Rahmenbedingungen für Öko-Landwirte.
"Und gleichzeitig diversifiziert sich die Struktur, wir haben kleinere Gartenbaubetriebe, die jetzt mit solidarischer Landwirtschaft ihr Geschäft machen, und wir haben große Betriebe, wie beispielsweise den Westhof-Betrieb, die auch größere Nachfragestrukturen bedienen."

Anja Hradetzky wiegt Käse ab. Erst Bockshornklee-, dann Pfeffer-, dann Bergkäse. Für den Hofladen. Zwei Nachbarskinder warten vor dem Holztresen. In Gummistiefeln und warmen Jacken.
Kinder: "Wir kommen dann hierher zum Melken?"
Anja: "Ja, ihr kommt dann hier vorne rein, dann kommen die Kühe ja nicht angelaufen, die sind hinter dem Gitter, dann könnt ihr da ein bisschen schauen. Und wenn ihre euch traut, dann könnt ihr auch in den Mittelgang zum Melken mit rein."
Kinder: "Ja, da war ich ja schon mal."
Anja Hradetzky nickt und wiegt weiter. Kühe gucken, kein Problem. Davon gibt es etliche hier, bei der "Stolzen Kuh" in der Uckermark, im brandenburgischen Stolzenhagen. Betriebsmotto: "Das Wesen der Kuh achten".
Anja Hradetzky blickt kurz nach rechts. Hinter dem Fenster liegt die kleine Käserei. Da sorgt Marvin, der Praktikant, für Käsenachschub. Die Chefin probiert:
"Jede Charge ist ein bisschen anders, das ist ja so bei Handwerk. Der hier mit dem Pfeffer hat so ein bisschen festere Konsistenz, der erste war weicher, bisschen wie Mozzarella. Hmm, guter Test, muss ich gleich mal am Montag sagen: bitte mehr davon."
Käse liegt in Regalen in einem Reiferaum.
Das Handwerk für seine eigene Käserei in Stolzenhagen lernte Janusz Hradetzky auf einer Alm.© Grenzgänger Journalistenbüro

Finanzierung über Crowdfunding

Immer wieder probieren – und nicht aufgeben – das ist ein Teil ihres Erfolgsrezepts. Anja und Janusz Hradetzky studierten ökologischen Landbau und Marketing. Hatten viele Ideen, aber kein Geld. Anja machte Praktika auf einer Rinderranch, trieb Herde in Kanada, Janusz lernte Käse machen auf der Alm, machte noch einen Master in Öko-Agrarmanagement. Gemeinsam entwickelten sie schließlich ihr Konzept: Alte Rinderrassen wesensgerecht halten, um Milch und Fleisch zu produzieren. Über Crowdfunding finanzierten sie die ersten Kühe, konnten Flächen im Nationalpark Unteres Odertal pachten.
Anja Hradetzky stapft vorbei am Stall, in dem die frischgeborenen Kälber stehen. Eine Kuh gibt Milch für die Produktion, eine andere säugt zwei Kälber – das ist das Prinzip der Ammentierhaltung. Unterm Strich heißt das: Weniger Milch. Aber viel entspanntere Tiere.
"Sofia ist eine Allgäuer Braunviehkuh… hier die Penny ist ein reinrassiges Angler Rotvieh, alte Zuchtrichtung, die setzen halt Fleisch an und geben Milch, all unsere Kühe."
Ein Stückchen hinter dem Stall liegt die Winterweide. Die älteren Kälber rekeln sich in Heunestern, die Mutterkühe blicken neugierig. Auch die Bullenkälber bleiben auf dem Hof. Und werden nicht nach zwei Wochen an Mastbetriebe weiterverkauft, wie es sonst der Fall ist. Drei Jahren grasen die Jungbullen draußen, dann werden sie geschlachtet.


"Die Kälber genießen das, draußen zu sein, den machen die Temperaturen auch nichts aus, die kommen mit dem richtigen Fell zur Welt. Und die können jetzt immer ans Euter, wann sie wollen."
2014 fingen sie an. Mit Biomilch, Weidetierhaltung und mobilem Melkstand. Das Ganze "Demeter" zertifiziert, die Premium-Klasse im Öko-Milchgeschäft. Doch schnell stand fest: Das Geld aus dem Milchverkauf wird die "Stolze Kuh" nicht in die Gewinnzone bringen. Also musste eine Käserei her, um die Milch zu veredeln, die Wertschöpfung zu erhöhen. Das nötige Geld besorgte sich das Ehepaar wieder über Crowdfunding. Die Kreditgeber wurden später in Käse ausgezahlt. Jetzt rechnet sich der Betrieb, sagt Anja Hradetzky.
"Wir haben inzwischen sechs Angestellte, die wir bezahlen können, denen wir auch noch gerne mehr bezahlen würden, aber das muss sich erst noch entwickeln. Ja, jetzt ist es schon so, dass wir den ersten Gewinn haben, nicht total üppig, aber wir haben eh geringe Ansprüche. Ich denke, da kann sich noch was entwickeln, aber es ist nicht mehr existenzbedrohend."
Kälber und Kühe liegen und stehen auf einer Weide.
Sie liefern weniger Milch, sind dafür aber entspannter – die Kühe von Anja und Janusz Hradetzky in der Uckermark.© Grenzgänger Journalistenbüro

Kritik am Ökolandbau verärgert die Branche

Knut Ehlers, Abteilungsleiter Landwirtschaft beim Umweltbundesamt, blickt im Frühling 2020 ernst in die Kamera. Im Hintergrund ein riesiges Getreidefeld. Es reicht fast bis zum Horizont.
"Die Landwirtschaft in Deutschland verursacht derzeit massive Umweltprobleme, viele Gewässer sind zu viel mit Nitrat belastet, wir beobachten seit Jahren einen Rückgang der Bio-Diversität in der Agrarlandschaft."
Minuspunkt für Minuspunkt zählt Ehlers in dem Info-Film des Umweltbundesamtes auf. Und stellt gleich klar, dass die konventionellen Landwirte meist nur den Vorgaben der Politik bzw. den Förderrichtlinien gefolgt sind. Doch das Umweltbundesamt will in die Zukunft blicken. Und hat das Forschungsinstitut für Biologischen Landbau beauftragt, die Entwicklungsperspektiven der ökologischen Landwirtschaft in Deutschland auszuloten.
Das Institut ist in Sachen Ökolandwirtschaft einer der renommiertesten Adressen in Europa. Sein Chef, Prof. Urs Niggli gilt als einer der Wegbereiter der biologischen Landwirtschaft. Umso schmerzhafter klingt dann auch seine Kritik am Ökolandbau.
"Er nutzt zwar das vorhandene bäuerliche Wissen vorbildlich. Der besten Nutzung des wissenschaftlichen Fortschritts stehen aber teilweise veraltete Richtlinien im Weg. Der Ökolandbau orientiert sich stark am Leitbild der Natürlichkeit und leider zu wenig am Leitbild einer umfassenden Nachhaltigkeit."

"Ökolandbau war (mal) eine Innovation"

Was die Experten auf 152 Seiten beschreiben, wird in der Öffentlichkeit im Frühjahr 2020 kaum diskutiert. Die erste Corona-Welle bestimmt die Schlagzeilen. Doch in der Bio-Szene sorgt die Studie für nachhaltige Verärgerung. Denn neben dem Lob für die ökologische Vorzüglichkeit diagnostizieren die Wissenschaftler vor allem einen begrenzten Innovationswillen.
"Der Ökolandbau war natürlich vor 30 Jahren eine Innovation, einfach so, wie er war. Das heißt, man hat sich im Ökolandbau selbst nicht viel Gedanken gemacht über Innovationen innerhalb des Ökolandbaus. Man war eine Innovation. Mittlerweile aber, wo man sich etabliert hat, da müsste man auch mehr über Innovationen im Ökolandbau stärker nachdenken."

Urs Niggli sitzt in der Schweiz an seinem Computer. Mitte 2020 – kurz nach dem Erscheinen der UBA-Studie – ging er in Pension. Doch der 67-Jährige ist nach wie vor ein gefragter Berater. Zurzeit bereitet er den Welternährungsgipfel 2021 mit vor.
"Ich habe heute eine größere Freiheit, mich auch zu kritischen Themen zu äußern, weil ich nicht mehr FIBL-Repräsentant bin. Und ich genieße diese größere Meinungsfreiheit auch."

Bio-Idylle in Deutschland, Umweltschäden im Ausland

Und von der macht er genüsslich Gebrauch. "Alle satt?" Heißt sein neuestes Buch. Untertitel: "Ernährung sichern für zehn Milliarden Menschen." Auch hier lobt Niggli den Ökolandbau. Aber diagnostiziert auch seine Defizite. Vor allem die zu niedrigen Erträge. Dabei rührt er an einem Tabu – er plädiert dafür, moderne Techniken der Genom-Editierung zu nutzen, um bestimmte Gene bei Pflanzen an- bzw. auszuschalten. So könnten widerstandsfähigere Pflanzen erzeugt werden, hofft Niggli, die für mehr Ertrag sorgen.
"Das Unschöne an tieferen Erträgen ist natürlich, dass man mehr Lebensmittel importieren muss. Und damit exportiert man auch Umweltwirkungen. Und auch Umweltschäden exportiert man, in dem man in Deutschland sehr umweltfreundlich mit dem Ökolandbau produzieren würde, aber mehr Lebensmittel aus dem Ausland importiert."
Bio-Idylle in Deutschland, Umweltfolgen im Ausland. Das ist schlecht für die Gesamtbilanz. Also rät Niggli zur Effizienz- und Ertragssteigerung. So wie in der UBA-Studie. Doch einige seiner Vorschläge sorgen bei den Anbauverbänden für Kopfschütteln. Auch wenn sie wissenschaftlich gut begründet sind.
"Ein Beispiel sind synthetische Aminosäuren, die Futtermitteln zugefügt werden. Das erhöht die Verdaubarkeit und die Wirkung der Nährstoffe in der Fütterung der Tiere, zum Beispiel Schweine und Hühner massiv."

Sollten Bio-Richtlinien geändert werden?

Mit weniger Futtermitteln zum selben Ergebnis, das ist praktizierter Ressourcenschutz, argumentiert Niggli. Bis zu einem Drittel Futter ließe sich einsparen, weil die Aminosäuren die Nahrung im tierischen Organismus besser verwertbar machen. Allerdings kommen die Hilfsstoffe aus dem Labor. Und dürfen nach heutigen Bio-Richtlinien nicht eingesetzt werden. Weniger konfliktbehaftet ist da die Digitalisierung:
"Dass man mit kleinen Maschinen, die eigenständig arbeiten, dass man ohne viel Handarbeit automatisierte Arbeits- und Pflegearbeiten durchführen kann, das ist spannend, das erlaubt, dass die Anbausysteme sehr viel vielfältiger werden. Man entwickelt sich zurück von großen Feldern, mit einer Kultur zu kleinen Feldern, wo sehr viele Interaktionen bestehen. Und auch zu Mischkulturen."
Ob Digitalisierung, Pflanzenschutz oder Züchtung – Niggli glaubt, dass in den nächsten Jahren der technologische Fortschritt den ökologischen Landbau noch weiter voranbringen kann. Ohne, dass dabei die Grundidee vom Wirtschaften in natürlichen Kreisläufen unter die Räder gerät:
"Diese Kombination von traditionellem Wissen und Hightech-Wissen, das wird die Probleme lösen."

Roboter übernehmen Handarbeit

"Ich weiß noch, als wir vor Jahren auf dem Feld standen und ich mit großen Augen geguckt habe: Was sehe ich da überhaupt. Und mir erst mal erklärt worden ist: Was ist da jetzt Unkraut und was die Karottenpflanze eigentlich ist."
Erinnert sich Florian Knoll an die Anfänge der Jät-Roboter-Entwicklung. Gemeinsam mit dem Bio-Landwirt Rainer Carstens auf dem Westhof in Schleswig-Holstein. Vor gut sieben Jahren war das.
"Die ersten Jahre sind wir mit dem Roboter übers Feld gefahren, da haben wir eigentlich auch nur eine Kamera mitgehabt und einen Rechner und haben Bilder aufgenommen, also ganz viele Bilder von verschiedenen Wachstumsstadien, verschiedenen Pflanzen. Haben uns dann hingesetzt – vor allen Dingen auch Studenten – und haben auf diesen Bildern dann markiert, was Unkraut ist und was die Nutzpflanze ist. Das haben wir ein paar Zehntausende Mal gemacht. Das macht man auch nicht den ganzen Tag, weil man dann irgendwann auch durchdreht. Und diese Bilder nutzen wir dann, um diese künstliche Intelligenz zu trainieren."


Damit die KI lernt, die Strukturen zu erkennen. Um zu wissen: Was ist eine Karotte und was kann weg? Mittlerweile kann die KI Tausende von Kräutern in verschiedenen Wachstumsstadien vom Möhrengrün unterscheiden. Parallel tüftelte der Ingenieur an der Frage: Wie beseitigt der Roboter das Unkraut am besten?
Zwei menschen binden Tomaten in einem Gewächshaus an.
KI kann zwar unterstützen, aber das Anbinden und Ausgeizen von Tomaten muss dann doch noch per Hand gemacht werden.© Grenzgänger Journalistenbüro
Erst entwickelte man eine Art "Stempel", der das Kraut zurück in den Boden drückt. Dabei wurden aber auch die Karottenpflänzchen beschädigt. Dann dachte der Ingenieur über Zerstörung per Laser-Strahl nach. Doch die Hersteller winkten ab: Auf dem Feld? – Zu kompliziert! Jetzt dreht der Roboter das Unkraut quasi heraus. Die Treffsicherheit liegt im hohen 90-Prozent-Bereich, so Knoll:
"Letztes Jahr haben wir die Vernichtungseinheit wirklich einmal getestet, das funktionierte auch, also das ganze Konzept. Das Problem war bei uns: Die Vernichtungseinheit hielt die Belastung nicht aus. Also einfach materialmäßig nicht."
Bis zu einem halben Meter pro Sekunde schafft der Jät-Roboter. Und das parallel auf acht Reihen, sagt der Ingenieur. Allerdings: Irgendwann machte die "Vernichtungseinheit", wie er den Roboter nennt, schlapp. Über den Winter hat ein Maschinenbauer sie neu aufgebaut.
"Jetzt warten wir eigentlich nur noch auf diese kommende Saison, um das ganze einmal wirklich hektarmäßig zu testen, und dann glauben wir auch, dass wir am Start sind."

Den "grünen Daumen" wird die Technik nicht ersetzen

Inzwischen haben Florian Knoll, Rainer Carstens und zwei weitere Mitstreiter ein Unternehmen gegründet, das weitere intelligente Robotersysteme für die Landwirtschaft entwickeln will. Für Bio-Landwirt Carstens ist der Jät-Roboter nur der Anfang. Er träumt von Drohnen, um etwa Krankheiten oder Nährstoffmangel auf dem Acker frühzeitig zu erkennen.
"Wir sind jetzt mit der einen Fachhochschule schon mal im Gespräch gewesen, ob wir hier ein 5-G-Netz erst mal firmenintern installieren, um eben große Datenmengen von einer Drohne auf einen Server zu kriegen, damit wir nicht immer Riesencomputer mitschleppen müssen, sondern dass wir das alles online bearbeiten können. Da sehe ich noch riesen, riesen Möglichkeiten und Chancen auf uns zukommen, die wir heute noch gar nicht alle sehen."
Aber – auch da ist sich Bio-Landwirt Rainer Carstens ganz sicher – die Technik wird niemals den Menschen ersetzen.
"Ich glaube, Technik kann dem Landwirt sehr gut helfen, aber es wird niemals den Landwirt ersetzen. Weil sie müssen das, was man als den "grünen Daumen" bezeichnet, das werden sie technisch niemals hinkriegen. Und diese Beobachtung, die der Landwirt machen kann und muss und beurteilen muss, versuchen wir jetzt ja auch eine technische Lösung für zu finden, aber das wird immer nur eine Hilfe sein."

Junge landwirtschaftliche Biobetriebe beleben die Region

"Markttag" auf dem Hof "Stolze Kuh" in der Uckermark, wie jeden Samstag von 10 bis 12 Uhr. Anja Hradetzky trägt eine Kiste Joghurtgläser ins kleine Wiegehaus. Das haben sie umgebaut zum Bio-Stützpunkt. Hier kann sich jeder selbst bedienen. Die Kasse des Vertrauens steht auf dem Tisch: Im Kühlschrank warten Quark, Joghurt, Milch, Rouladen und Steaks. Dazu kommen noch Rote Beete- und Apfelsaft sowie Bier aus der Umgebung.
"Wir machen Vermarktungsunterstützung für Jungbäuerinnen und Jungbauern, die können hier ihre Produkte mit reinstellen. Und damit die Menschen wissen, was dahintersteckt, habe ich gesagt: Na kommt, mach mal ein A4-Blatt, wo draufsteht, was besonders ist."
Draußen holt eine junge Frau Pappen voll frischer Eier aus dem Kofferraum ihres Kleinwagens. Jenny Klemin kommt vom "Bauernhof Oderaue", seit sechs Jahren bewirtschaftet sie dort mit ihrem Mann Ulrich 18 Hektar. Sie bauen Gemüse an, halten Schafe und Hühner.
"Es geht nicht nur darum, bei uns, dass wir Eier verkaufen möchten, sondern Ulrich möchte auch alte Hühnerrassen erhalten und züchten. Und hat da so ein paar Zuchtstämme und will da eine Zuchtlinie etablieren. Das wir Rassehühner haben, die eine gute Eierleistung bringen und die Hähnchen eben auch Fleisch ansetzen, das wir das auch verkaufen können."
Noch dominieren auch in vielen Biobetrieben Hühnerrassen aus konventionellen Zuchtlinien. Die entweder auf Legeleistung oder auf Fleischansatz spezialisiert sind. Sogenannte Zweinutzungshühner verbinden beide Eigenschaften und gelten als zukunftsweisend. Jenny stellt die Eier ins Wiegehäuschen. Und holt als Nächstes ein paar Saftflaschen aus dem Kofferraum.


"Unter anderem bauen wir auch Rote Beete an. Und ein Freund von uns hat damals fast zeitgleich eine Saftpresse aufgemacht und uns angeregt, doch so Obst-Gemüse-Sachen zu mischen, und deshalb gibt es bei uns einen Rote Beete-Apfelsaft, der auch sehr lecker ist und gut geht. Apfelsaft, Quittensaft habe ich jetzt."
Die jungen Biolandwirte beleben mit ihren Betrieben die Region, sogar eine kleine Dorfschule ist im Nachbardorf entstanden.
Ein Pärchen aus Berlin kommt auf den Hof. Die beiden sind Stammkunden, betreiben einen Catering-Service. Diesmal wollen sie bei Jenny Lammfleisch bestellen:
"Wir schlachten ja nur auf Bestellung und jetzt steht ja Ostern an und da werden ein paar Schafe geschlachtet vorher. Und ich schicke das dann rum, Bestellformular per E-Mail oder die Leute, die es dann wissen, die quatsch ich an und sag Bescheid."
Anja Hradetzky steht im kleinen Verkaufsraum hinter der Käsewaage. Der Hofverkauf allein würde für die Vermarktung ihrer Produkte nicht reichen. Regelmäßig liefern sie deshalb auch nach Berlin, an Marktstände und Bioläden. Der samstägliche Markt auf dem Hof aber ist trotzdem wichtig. Für den Kundenkontakt. Die Region. Und den Zusammenhalt der Jungbauern.
"Und das ist schön, sich so auszutauschen, sich gegenseitig Mut zu machen, auch gegenseitig Saatgut abzunehmen und Zuchttiere zu verkaufen. Und die Vermarktung einfach zusammen zu bündeln."
Das stärkt alle. Und stützt die Anfänger. Denn mit einer Durststrecke müssen Neueinsteiger fast immer rechnen.
"Wir ermutigen auch Junglandwirte in anderen Bundesländern auch solche Initiativen zu starten, ist superwichtig fürs Mindset sozusagen, ne."
Eine Frau steht mit Kästen in den Armen vor einem Hofladen.
Anja Hradetzky bringt Nachschub für ihren Hofladen in Stolzenhagen.© Grenzgänger Journalistenbüro

Viel zu wenig Forschungsgeld für Ökolandbau

"Ich war zutiefst schockiert, als ich mal festgestellt habe: Die großen Ausgaben der Forschung in Deutschland gehen in die Rüstung, gehen in die Automobilindustrie, in die chemische Industrie. Wir haben einerseits politische Ziele: 20 Prozent ökologischer Landbau in Deutschland, 25 Prozent Ökolandbau in der EU und die Forschungsmittel liegen bei uns in Deutschland unter zwei Prozent für den Ökolandbau. Und ich frage mich immer, wie will man so ein Ziel erreichen, wenn man die Entwicklung und die Forschung, die man für so einen Weg braucht, nicht in gleichem Maße finanziert."
Alexander Gerber sitzt in dem Berliner Büro des Bundes für Ökologische Lebensmittelwirtschaft und schüttelt den Kopf. Er weiß, um den Innovations- und Forschungsbedarf im Ökolandbau. Vielleicht ließe sich ganz anders ackern, überlegt der promovierte Landwirt. Aber das müsste einfach mal erprobt und erforscht werden.
"Meine Überzeugung ist, wir wären viel effizienter und auch ökosystemar in Bezug auf Schädlinge viel besser, wenn wir das sozusagen zusammenschieben würden aus der zeitlichen Abfolge in eine räumliche Gliederung, auf dem einen Acker, Mischkulturen, Agroforst, dass man auch Baumreihen dazwischen hat, die dann ein besseres Mikroklima erzeugen. Und dann wird es natürlich interessant, in solchen Systemen wird dann natürlich auch ein Unkrautroboter, ein digitalisiertes Gerät interessant, weil ich dann ja schmale Reihen habe. Und weil ich da ja wenig Bodendruck draufhaben will."
Erste zaghafte Ansätze gibt es, aber eine breit angelegte Forschung fehlt. Und das gilt für viele Bereiche. Zum Beispiel auch für die Pflanzenzüchtung: Noch immer kommt Saat- und Pflanzgut zum Einsatz, das nicht optimal auf die Bewirtschaftung im Ökolandbau abgestimmt ist.
"Wie kann man tatsächliche intelligente Pflanzengesellschaften aufbauen, so, dass wir weniger Druck durch Schädlinge und Pflanzenkrankheiten haben, es gibt zum Beispiel so Ansätze, dass man nicht mehr eine einzelne Sorte züchtet, sondern dass man Populationssorten züchtet, die dann einfach ein breites Spektrum haben und dann resistenter sind."

Die Branche streitet über die Zukunft

Kritiker bemängeln, dass die starke Betonung von Naturbelassenheit im Ökolandbau teilweise zu einer ablehnenden Einstellung gegenüber technischen und technologischen Innovationen führt. Gerber kennt die Argumentation. Und hält dagegen: Es werde sehr wohl um den Weg in die Zukunft debattiert und gestritten. Innerhalb der verschiedenen Verbände des ökologischen Landbaus, aber auch zwischen den einzelnen Verbänden.
"Wenn der Ökolandbau sich nicht weiterentwickelt, dann wird er seine Funktion, die er hat, verlieren. Wenn er weiterhin das Leitbild und der Innovator für die Landwirtschaft der Zukunft sein will, dann muss er sich auch weiterentwickeln, die ganze Geschichte des Ökolandbaus ist eine Geschichte der stetigen Weiterentwicklung. Vor 50 Jahren hat noch niemand über Züchtung gesprochen, in der Zwischenzeit ist das ganz klar, dass wir eigene Sorten brauchen. Vor fünf Jahren hat noch niemand über Mutter gebundene Kälberaufzucht gesprochen, heute ist das das Thema."


Bei der Stolzen Kuh in Brandenburg geht der samstägliche Markt zu Ende. Anja Hradetzky packt noch einige Käsestücke in den Kühlschrank im Wiegehäuschen. Für die Kunden, die später noch vorbeikommen.
"Das funktioniert richtig gut. Immer mehr Menschen sind sich bewusst aus der Region, von jungen Höfen, von handwerklich arbeitenden Höfen zu kaufen und dann auch das Geld hier in der Region zirkulieren zu lassen, was natürlich für die Wertschöpfung und auch die Wertschätzung, die hier vor Ort bleibt. Und nicht 3000 km entfernt irgendwo prozentmäßig ein bisschen ankommt bei den Erzeugern."
Sie schließt die Tür zum Wiegehäuschen. Feierabend. 500 Kilometer weiter, an der Nordseeküste, lässt Rainer Carstens noch einmal den Blick durch seine große Lagerhalle schweifen. Bio-Rote-Beete wartet versandfertig auf Paletten. Nachschub für eine Handelskette.
"Heute gibt es natürlich die Diskussion, ist so ein Gewächshaus bio oder ist das nicht bio? Aber ist ein kleines Gewächshaus mehr bio als ein großes? Für mich kommt es eigentlich nicht auf die Größe an, das darf nicht das Kriterium sein. Das Kriterium muss sein, ist der ökologische Anbau in Ordnung und da würde ich sagen, da gibt es Kleine, die das falsch machen und da gibt es Große die das falsch machen. Aber es gibt genauso Kleine, die das richtig machen, wie auch Große, die das richtig machen."
In einem Hofladen stehen Eier auf einem Tisch.
Selbst ist der Kunde und die Kundin - im Hofladen der "Stolzen Kuh". Ein Konzept, das in Stolzenhagen funktioniert.© Grenzgänger Journalistenbüro

Autoren: Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster
Sprecherin: Monika Oschek
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Toningenieur: Martin Eichberg
Redaktion: Constanze Lehmann

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