Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident und ehemaliger Finanzminister, hat erneut die Rückkehr zu einem Kurs der finanzpolitischen Stabilität eingefordert. „Herr Schäuble scheint irgendwie nicht so ganz die Zeichen der Zeit zu verstehen“, sagt hingegen Peter Bofinger. Der ehemalige Wirtschaftsweise bezeichnete es als „naiv“, wenn Schäuble glaube, mit einer schwarzen Null die Zukunft bewältigen zu können.
Andere Volkswirtschaften, wie die USA oder China, die riesige Defizite im Haushalt hätten, setzten schließlich auch das Mittel der Schulden ein, um ihre Wirtschaften zukunftsfähig zu machen – vor allem mit Blick auf den Klimawandel.
Deutschland habe durch seine gute Finanzlage sehr viel Spielraum, um jetzt Schulden zu machen, forderte Bofinger: „Das gibt uns ja ein riesiges Potenzial, das auch auszunutzen und unsere Wirtschaft in den nächsten Jahren so aufzustellen, dass wir zum einen den Klimawandel bewältigen und dass gleichzeitig unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt.“
Keine Anzeichen für drohende Inflation
Anders als Wolfgang Schäuble, schätzt Bofinger die Inflationsgefahr derzeit als äußerst gering ein. Die sogenannte Kerninflationsrate liege sogar nur bei unter einem Prozent. „Also da ist überhaupt nichts von Inflation zu sehen“, sagte der Volkswirtschaftler.
Etwas anders stelle sich die Lage in den USA dar. Dort sei die Geldmenge zuletzt doppelt so stark gestiegen wie in Deutschland. Aber auch jenseits des Atlantiks hält der Ökonom Inflationsraten von etwas mehr als vier Prozent nicht für gefährlich, solange sie ein temporäres Phänomen bleiben. Bofinger: „Wir hatten in den 70er-Jahren, Anfang der 80er-Jahre Inflationsraten, die deutlich höher waren.“
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat in dieser Woche – und da muss man sagen wieder einmal – die Rückkehr zu einem Kurs der finanzpolitischen Stabilität eingefordert. Er hat das Ganze – und das ist auch nicht neu bei ihm – mit kritischen Bemerkungen Richtung Italien garniert, vor allen Dingen auch Richtung Ministerpräsident Draghi. Auf den ersten Blick könnte man sagen, da ist ein alter Konflikt erneut befeuert worden. Der frühere Finanzminister von Deutschland und der EZB-Chef, hier die schwarze Null und dort what ever it takes. Aber was steckt möglicherweise dahinter? Steckt mehr dahinter, und was heißt das ökonomisch? Sind das die richtigen Rezepte?
Herr Bofinger, was sagt der Ökonom – ich füge hinzu, Herr Schäuble ist Jurist –, sehen Sie wieder einmal, dass alles, was mit Konsolidierung zu tun hat und dass das an finanzpolitische Solidität, dass das im Moment über Bord geworfen wird?
Peter Bofinger: Na ja, Herr Schäuble scheint irgendwie nicht so ganz die Zeichen der Zeit zu verstehen, denn er glaubt ja allen Ernstes, dass man die großen Herausforderungen, die sich durch den Klimawandel stellen, dass man die mit einer schwarzen Null bewältigen kann. Er müsste ja nur mal ein bisschen in der Welt sich umschauen und sich fragen, wie machen das denn andere Volkswirtschaften. Und dann nehmen Sie die USA und nehmen Sie China, die haben im Augenblick riesige Defizite im Haushalt, die etwa doppelt so hoch sind wie im Euroraum, und das setzen sie aber auch ein, um ihre Wirtschaften zu stimulieren und ihre Wirtschaften zukunftsfähig zu machen. Nebenbei profitieren wir in Deutschland ja auch im Norden davon, unsere ganze Exportwirtschaft lebt ja davon, dass Impulse in diesen Wirtschaftsräumen gesetzt werden. Jetzt zu glauben, dass er mit einer schwarzen Null die Zukunft bewältigen kann, das halte ich doch für ziemlich naiv.
Zurheide: Jetzt ergeben sich natürlich doch einige Fragen, und die wollen wir nach und nach abhandeln. Das erste Stichwort Inflation. Die Zahlen, die wir in diesen Tagen sehen, sowohl aus den Vereinigten Staaten, aber auch hier bei uns in Europa und in Deutschland, die deuten darauf hin, na ja, kommt Inflation zurück – ich will das mal als offene Frage formulieren –, wie sehen Sie das?
Bofinger: Na ja, Herr Schäuble arbeitet ja mit dem Inflationsgespenst, dass er da an die Wand malt, aber wenn wir uns den Euroraum ansehen, da haben wir jetzt gerade mal eine Inflationsrate von zwei Prozent, das ist aber ganz stark von den Energiepreisen getrieben. Wenn wir die rausnehmen aus dem Preisindex und die unverarbeiteten Nahrungsmittel auch noch rausnehmen, dann haben wir die sogenannte Kerninflationsrate, und diese liegt unter einem Prozent. Also da ist überhaupt nichts von Inflation zu sehen, und die Inflationserwartungen, die von professionellen Ökonomen regelmäßig erhoben werden, die liegen ganz deutlich unter den zwei Prozent der EZB.
Die Situation ist etwas anders in den Vereinigten Staaten, und da muss man eben sehen, die Impulse, die die USA setzen, sind in allen Bereichen etwa doppelt so hoch wie im Euroraum, und die Amerikaner haben wirklich sehr viel Geld in die Hand genommen, um jetzt auch den privaten Haushalten ihre Kaufkraft zu stärken. Wir beobachten, dass die Einkommen der privaten Haushalte im ersten Quartal 2021 um 20 Prozent höher sind als vor zwei Jahren, das heißt, da ist sehr viel Geld im System, die Geldmenge ist auch doppelt so stark gestiegen wie bei uns. Da kann man nicht ausschließen, dass es mal temporär zu höherer Inflation kommt, also Inflationsraten von vier Prozent oder vielleicht ein bisschen mehr.
Deutlich höhere Inflationsraten in der Vergangenheit
Zurheide: Halten Sie das für gefährlich?
Bofinger: Nein, ich meine, wir hatten in den 70er-Jahren, Anfang der 80er-Jahre Inflationsraten, die deutlich höher waren. Wichtig ist, dass wenn diese Impulse jetzt ausgelöst werden, dass das temporär ist und dass danach die Situation sich wieder legt. Und ich glaube auch, dass eben diese Stimulierungen einmalig sind und dass danach wir auch wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen werden, auch in den USA.
Zurheide: Das heißt, auch die Inflation sehen sie dort nicht als dauerhaftes Phänomen, eher als sogenannte Nachholeffekte – das ist ja die Debatte, die gerade geführt wird.
Bofinger: Ich würde das so sehen, ja. Ich meine, sehr viel des Geldes ist jetzt auch gehortet in den USA von Menschen mit relativ hohen Einkommen, das heißt, die werden auch nicht sofort alles wieder ausgeben, werden es über die Zeit strecken. Deswegen, in meinen Augen ist das ein temporärer Schub, der da eintreten kann, aber ich glaube nicht, dass wir an Größenordnungen herankommen werden, wie wir das in den 70er- oder 80er-Jahren gesehen haben.
Schnelle Schuldenrückzahlung für Staaten nicht so entscheidend
Zurheide: Jetzt kommen wir noch mal zu den Schulden: Da sagen ja viele, wie kann das zurückgezahlt werden – wobei ich füge jetzt bewusst hinzu, das sind eher Leute, die vielleicht betriebswirtschaftlich oder kameralistisch denken und weniger volkswirtschaftlich –, kann man das Geld zurückzahlen, oder ist die Frage schon falsch gestellt?
Bofinger: Ich glaube, die Notwendigkeit, dass die Staaten ihre Schulden reduzieren, ist eben ganz anders, als wenn Sie einen jetzt privaten Haushalt nehmen. Wenn wir über Schulden reden, dann haben wir immer so das Gefühl, dass das wie bei einem privaten Haushalt ist, der jetzt sich eine Immobilie kauft und dann irgendwann, bevor er in Rente geht, muss das Ganze zurückbezahlt werden. Staaten leben aber ewig, und von daher gibt es nicht diese Notwendigkeit der Zurückzahlung. Für uns als Ökonomen ist entscheidend, das Verhältnis der Staatsverschuldung zur Wirtschaftsleistung, die sogenannte Schuldenstandsquote, und die ist sicher wichtig für die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte.
Und wenn wir uns da in Deutschland diese Relation angucken, liegen wir derzeit bei 70 Prozent, und das ist im Vergleich zu den meisten anderen großen Volkswirtschaften extrem gering. Die USA liegen bei 130 Prozent, das Vereinigte Königreich ist da bei 120 Prozent, das heißt, wir haben eine sehr niedrige Verschuldung relativ zu unserer Wirtschaftsleistung. Das gibt uns ja ein riesiges Potenzial, das auch auszunutzen und unsere Wirtschaft in den nächsten Jahren so aufzustellen, dass wir zum einen den Klimawandel bewältigen und dass gleichzeitig unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt.
Zurheide: Damit haben Sie aber zwei wichtige Stichworte genannt, Schulden, und damit sind wir bei der Frage, wofür wird Geld ausgegeben? Ich füge jetzt noch hinzu, in Deutschland, nach 16 Jahren Merkel, aber das hat sicherlich vorher schon begonnen mit Steuerreformen in der Schröder-Zeit, wir haben fast 20 Jahre in Deutschland zu wenig investiert. Wie kann man dafür sorgen, dass wenn jetzt investiert wird, dass es, in Anführungsstrichen, „richtig“ investiert wird?
Bofinger: Na ja, es gibt ja da in der Finanzwissenschaft die sogenannte Goldene Regel, und diese Goldene Regel sagt, der Staat darf Schulden machen, wenn er das Geld dafür ausgibt, dass investiert wird, dass also Werte geschaffen werden, die auch für die Zukunft vorhanden sind, die also auch für die zukünftigen Generationen von Vorteil sind. Ich denke, diese Goldene Regel ist eine wichtige Richtschnur für Fiskalpolitik. Das wäre für mich eigentlich jetzt der Weg, den wir gehen sollten, dass wir uns überlegen, welche Investitionen brauchen wir, um dem Klimawandel jetzt zu bewältigen, um unsere Industrie zukunftsfähig zu machen, und was kostet das. Und für diese Investitionen, meine ich, sollte man dann auch die Möglichkeit schaffen, dass die mit Krediten finanziert werden.
Zurheide: Dagegen spricht aber die Schuldenbremse.
Bofinger: Das ist im Prinzip richtig, aber die Schuldenbremse hat ja auch eine Ausnahmeregel. Die Schuldenbremse sagt explizit, dass im Fall von Naturkatastrophen, die jetzt einen erhöhten Finanzbedarf des Staates bedingen, dass dann auch mehr Schulden aufgenommen werden dürfen. Diese Regel wurde jetzt ja auch gezogen, damit wir die Covid-Pandemie bewältigen konnten, und ich meine, wenn man für Covid diese Ausnahme ermöglicht hat, dann müsste das eigentlich für den Klimawandel genauso gehen, denn für unsere Volkswirtschaft, aber auch unsere Welt ist der Klimawandel eine mindestens so große Herausforderung wie die Covid-Pandemie.
„Da ist sehr viel Spielraum, dass wir jetzt Schulden machen“
Zurheide: Jetzt kommen wir wieder an den Anfang zurück, jetzt werden natürlich manche sagen, der Bofinger fordert schon wieder neue Schulden, wir haben gerade welche gemacht, und jetzt kommen da noch welche obendrauf. Wie soll das dann irgendwie sich wieder ausgleichen, oder sagen Sie, Wirtschaftswachstum ist das Zauberwort?
Bofinger: Ich sag ja, die entscheidende Größe ist die Schuldenstandsquote, also Staatsverschuldung bezogen auf die Wirtschaftsleistung. Wir liegen derzeit bei 70 Prozent, wir hatten nach der Finanzkrise 80 Prozent, das heißt, da ist sehr viel Spielraum, dass wir jetzt Schulden machen, wobei wir dann diese Schuldenstandsquote konstant halten könnten oder sogar ein bisschen erhöhen. Wichtig ist ja, wenn wir über die Zukunft unseres Landes reden: Was hat Vorrang, was hat Priorität? Ist es wirklich die Verschuldung, ist das das wichtigste Ziel unserer gesamten Politik in Deutschland, oder muss es darum gehen, dass unser Land jetzt den Klimawandel bewältigt, dass wir auch soziale Gerechtigkeit haben, dass wir eine wettbewerbsfähige Industrie haben, sollte das nicht Priorität haben. Und dann, im zweiten Schritt, muss man sich dann fragen, na ja, wohin entwickelt sich diese Schuldenstandsquote, und wenn die dann von 70 auf 80 Prozent steigen würde, ist das etwas, wo kein Finanzwissenschaftler der Welt behaupten könnte, dass das nachteilig für Deutschland ist.
Zurheide: Und Sie sagen, dafür müssen wir nicht das Grundgesetz ändern, sondern Sie glauben, mit der Ausnahmeregel könnte man das auch noch bewältigen?
Bofinger: Die Ausnahmeregel sagt ganz klar: Naturkatastrophen, das ist eine Voraussetzung, damit man diese Ausnahmeregel ziehen kann. Und ich sagte das schon, in meinen Augen ist der Klimawandel mindestens so problematisch wie die COVID-Pandemie. Da hat man das gemacht, und ich wollte mal sehen, ob jetzt das Bundesverfassungsgericht sagen würde, das Berufen auf diese Ausnahmeregel für den Klimawandel ist nicht verfassungsgerecht, nachdem das Verfassungsgericht ja selbst angemahnt hat, wie wichtig das ist, dass wir jetzt möglichst schnell den Klimawandel in Angriff nehmen.
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