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Eine Geschichte, die erzählt werden muss

Die Enthüllungen über Kindesmissbrauch durch Lehrer und Geistliche hat ein Mann aufmerksam verfolgt, bevor er sich entschloss, selbst zu reden. Markus Schmalzried hofft, dass auch seine Erlebnisse Gehör finden, auch wenn sie Jahrzehnte zurückliegen.

Von Uschi Götz | 08.07.2010
    Rückblick, das Jahr 1974. Markus Schmalzried ist zwölf Jahre alt, besucht die siebte Klasse eines Gymnasiums am Bodensee. Der Junge ist sehr gut in der Schule, in seiner Freizeit spielt er Orgel in der Kirche. Und doch: Die Not des Buben ist groß: Er stottert seit der Grundschulzeit. Markus lernt, um nicht vor der Klasse aufgerufen zu werden:

    "In zwei, drei Fächern hatte ich schon nach einem Vierteljahr Unterricht die schriftlichen Hausaufgaben bis zum Ende des Jahres, hatte zum Teil schon vorgelernt auf ein halbes Jahr, eben wegen dem Stottern. Ich hatte im Oktober schon die ganzen schriftlichen Aufgaben bis zum Juli gemacht. Und auch schon übersetzt, was man alles so musste."

    Heute ist Markus Schmalzried 47 Jahre alt und lebt in Süddeutschland. Maler sei er, sagt er bescheiden; was er bei einem Treffen vorzeigt, ist Kunst. Bilder statt Worte:

    " Das war mir einfach so peinlich: Ich bin jeden Morgen mit Angst zur Schule gegangen, ja. Ich habe damals, gut das ist harmlos, Bierhefe geschluckt en masse. Das war etwas, das meine Mutter empfohlen hat. "

    Die Mutter beschließt, den damals Zwölfjährigen im benachbarten Sprachheilzentrum, eine diakonische Einrichtung, vorzustellen. Ein Psychologe hört sich seine Geschichte an:

    "Wir sind da hin, auch mit meinem Wunsch, dass einem da geholfen wird. Und da war erst ein Gespräch mit dem Psychologen zusammen. Meine Mutter war da, ich und der Psychologen, und da hat man da so - ich würde mal sagen so zehn Minuten, vielleicht waren es auch 20 Minuten also so ein bisschen geredet."

    Nach diesem Gespräch schickt der Psychologe die Mutter vor die Tür.

    "Ich weiß halt noch, dass neben seinem Büro, im offiziellen Beratungsbüro, ich nenne es einfach in meiner Erinnerung Kabuff, weil es halt ein sehr kleiner Raum ist, dann hat er mich so, also meine Mutter war kaum draußen, vielleicht hat er noch zwei drei Worte mit mir gewechselt, dann komm mal mit."

    Der Junge geht mit.

    "Auf jeden Fall hat er mich dann von der Erinnerung her schon ziemlich gleich, nachdem wir in den Raum gekommen sind, so: Ja setzt dich mal dahin auf das Sofa, auf das Kanapee, und hat mir so das Gefühl vermittelt, das gehört jetzt einfach dazu, zu der Untersuchung. Also wir sind jetzt hier im Sprachheilzentrum, damit du mit dem Stottern, damit wir da die Lösung, entweder die Ursache rauskriegen oder die Ursachen rausfinden, damit du da geheilt wirst und dass du davon erlöst wirst, musst du dich jetzt auf das Sofa setzen."

    Der Psychologe lässt den Jungen seine Hose öffnen und vergeht sich an ihm. So zumindest schildert Markus das, was er als Kind im Sprachheilzentrum am Bodensee erlebt hat. Er ist sich sicher, nicht das einzige Opfer des Psychologen zu sein:

    " Er hat das wirklich mit so einer Normalität und Selbstverständlichkeit gemacht. Also, es war jetzt nicht so .... Er hat es im gleichen Ton und Duktus und Gestus, wie die Befragung ... ja, also."

    Seine Mutter erfährt nie etwas davon. Keiner erfährt etwas - über zwei Jahrzehnte lang. Den Psychologen hat Markus Schmalzried nie wiedergesehen. Er stottert weiter. Sein Leben gerät zunehmend aus den Fugen. Er erkrankt an Magersucht, wird immer schlechter in der Schule, die er ohne Abschluss verlässt. Er zieht Zuhause aus, findet keinen Halt mehr im Leben. Im Alter von 36 Jahren erinnerte ihn ein banales Ereignis plötzlich an das Erlebte beim Psychologen. Er identifizierte den mutmaßlichen Täter, schrieb ihm und erstattet Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Vertreten wird er bisweilen von der renommierten Münchner Anwaltskanzlei Bossi. Eine Gutachterin attestiert ihm, dem mutmaßlichen Opfer eine psychogene Amnesie. Verdrängung also. Zwei Anzeigen bleiben ohne Erfolg.. Markus Schmalzried kontaktiert den Psychologen erneut:

    "Ich habe ihn angeschrieben über das Sprachheilzentrum, weil er hat sich immer anonym gehalten, er hat nie mit seinem Absender zurückgeschrieben. Und ich habe erst dann, das kann man chronologisch feststellen, ich habe am Schluss dann geschrieben: Hören Sie mal her, wie stehen Sie eigentlich dazu? Ich habe ihn einfach mit diesen Vorfällen oder dem Vorfall konfrontiert, der 1974 war. Da war doch das und das,was Sie gemacht haben. Wie stehen Sie eigentlich dazu? Und als er danach nicht zurückgeschrieben hat, dann habe ich Anzeige gestellt wieder. Das dritte Mal."
    Das dritte Ermittlungsverfahren wird im Dezember 2007 eingestellt. Begründung: Verjährung. Der beschuldigte Psychologe ist schon längst im Ruhestand; er unterstützt seit Jahren eine Kinderhilfsorganisation. Im März 2010 wendet sich Markus Schmalzried an die evangelische Kirche, welche juristisch für das Sprachheilzentrum zuständig ist. Zwei Monate später erhält er einen Brief aus der Rechtsabteilung der evangelischen Landeskirche in Baden. Darin heißt es:

    "Wir danken Ihnen für Ihre Offenheit und bedauern sehr, dass Sie die von Ihnen geschilderten schlimmen Erfahrungen machen mussten. Ihre Anzeige wird Anlass sein, den Vorwürfen nachzugehen und die Vorfälle im Sprachheilzentrum Ravensburg in den 70er-Jahren insgesamt aufzuklären."

    Der Deutschlandfunk fragt bei der Verfasserin des Briefes nach, wie dieser Satz zu verstehen sei. Sie verweist an das Büro des evangelischen Oberkirchenrats in Stuttgart; das wiederum erklärt, das Diakonische Werk in Stuttgart sei Ansprechpartner, weil es für das Sprachheilzentrum zuständig ist. Beim Diakonischen Werk kennt eine Mitarbeiterin den Fall Schmalzried zwar, aber sie weiß nichts von weiteren Vorfällen im Sprachheilzentrum in den 70er-Jahren. Vor neun Tagen dann erreicht uns ein Schreiben. Ursula Belli, die heutige Direktorin des Zentrums, teilt mit:

    "Wir sind mit Herrn Schmalzried seit 2007 in Kontakt. Wir haben seine Angaben über die von ihm behaupteten Vorkommnisse in den 70er-Jahren sorgfältig recherchiert, haben aber - außer seinen eigenen Angaben - keine konkreten Anhaltspunkte dafür finden können, dass die von ihm erhobenen Vorwürfe zutreffend sind."

    Die Direktorin schreibt von schwierigen internen Recherchen, unter anderem weil Unterlagen aus der damaligen Zeit nicht mehr existieren. Und weiter heißt es in dem Brief.

    "Wir selbst verfolgen die Angelegenheit weiter. Wenn es ein Fehlverhalten bei uns gab oder gibt, von dem wir noch nichts wissen, sind wir an der Aufklärung interessiert. Wir beteiligen uns daran aktiv im Rahmen unserer Möglichkeiten."

    Den Schritt in die Öffentlichkeit hat sich Markus Schmalzried lange überlegt. An keiner Stelle erschien er in seinen Schilderungen unglaubwürdig. Nicht rächen möchte er sich, vielmehr wünscht er sich, durch seine Erzählungen mögen sich weitere mögliche Betroffene melden. Zumindest eines hat er bis jetzt erreicht: Tatsächlich scheint man auch auf kirchlicher Seite aktiv zu recherchieren.