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Substanz im Übergang

"Schreiben ist sterben lernen", hat die Dichterin Ilse Aichinger einmal gesagt. Aus einer solchen Perspektive erscheint moderne Dichtung als die Kunst, den ruhigen, gelassenen Blick auf die eigene Vergänglichkeit einzuüben. In dieser Kunst hat es der Freiburger Schriftsteller und Rundfunkjournalist Wolfgang Heidenreich weit gebracht, wie sein neues Gedichtbuch "Maische" zeigt.

Von Michael Braun | 22.01.2008
    Der Stoff, der dem Gedichtband seinen Titel gibt, ist eine Substanz im Übergang: "Maische", ein Begriff aus der Wein- oder Schnaps-Zubereitung, ist ein zerdrücktes Gemisch aus Obst und Most, aus dem nach einer gewissen Gärungszeit das wohlschmeckende Endprodukt gewonnen wird. "Maische" - das ist in diesem Fall auch ein poetischer Rohstoff, aus dem intensive Gedichte entstanden sind. Und diese Gedichte erzählen auch von der Seelenverwandtschaft zweier Dichter: Einer Seelenverwandtschaft zwischen Wolfgang Heidenreich, der mit dem melodischen Breisgauer Alemannisch seiner Mutter aufwuchs, und dem berühmten Brandenburger Lyriker Peter Huchel, dem Dichter der Naturmagie.

    Ein programmatisches Gedicht in "Maische" ist in diesem Sinne einem "alten Dichter" gewidmet.

    Der "alte Dichter" sitzt in seinem Refugium, einer "Holzhauerkate", und unterbricht nur selten sein Schweigen, um einige Verse "zu den Verzweifelten" zu murmeln. Draußen ist nur das Geräusch einer "Brandung" zu hören, drinnen sucht der lyrische Eremit nach gültigen Wörtern für - so wörtlich - "der Seele aufgepresste Widerfährnis". Dieser Text entpuppt sich als anrührendes Porträt Peter Huchels. Man darf mit guten Gründen mutmaßen, dass Wolfgang Heidenreich in dieses Huchel-Bild auch seine eigene Poetik eingeschmuggelt hat. Denn die Begegnung mit Huchel markierte vor 35 Jahren eine Zäsur im Leben des damaligen Südwestfunk-Journalisten Heidenreich. Kurz nach Erscheinen seines Gedichtbands "Gezählte Tage" hatte sich der in der DDR schikanierte Huchel 1972 in Staufen im Markgräflerland niedergelassen, der "Notherberge für seine letzten Jahre". Der Rundfunkmann Heidenreich hat damals einige Interviews mit Huchel geführt und nach dem Tod des Dichters den Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik initiiert.

    35 Jahre danach zeigt es sich, dass Wolfgang Heidenreich, dem - so schreibt er in einer biografischen Notiz - "durch eine schwere Erkrankung die körperlichen Voraussetzungen für das Schreiben und Tippen abhanden gekommen sind", als Lyriker sehr viel von Huchels Poetik gelernt hat. Zugleich hat er sich eine eigene lyrische Stimme bewahrt, eine Stimme, die sich in sehr unterschiedlichen Formen am inständigen Benennen der Dinge versucht.

    Da findet man wie bei Huchel geheimnisvoll leuchtende oder sich verdunkelnde Naturzeichen, Vexierbilder, die das lyrische Ich behutsam entziffert. Da ist eine widerborstige Rauheit der Diktion, die aus seltenen Naturvokabeln poetische Intensität gewinnt Und da ist ein emphatischer Ernst des Sprechens, der weiß, dass im Gedicht jedes Wort ein Menetekel sein kann. Wer die "Maische"-Gedichte aufmerksam studiert, der ist beeindruckt von der Energie der poetischen Fügungen, die Heidenreich bei seiner Wanderung durch die Schlüsselszenen einer Menschenexistenz freigesetzt hat. In sechs Kapiteln, denen der Autor sehr lakonische Titel gegeben hat, inventarisiert Heidenreich die "Kinderszenen", Landschaften und Wunschbilder eines Lebens, dem jetzt das Daseinselixier, der Atem, genommen zu werden droht. Einer der stärksten Texte Heidenreichs, das Gedicht "Meerstern", ist einem körperlich schwer versehrten Bodensee-Mönch gewidmet, der seinem Leiden großartige Marienlieder abgetrotzt hat.

    Schiefmönchlein Buckelkörperchen
    Hermannulus contractus leibhaftig
    Benedeie ich in meiner Not den
    Hymnisch ausgesungenen Pflegefall



    So beginnt der ergreifende Klagegesang dieses Gedichts, das wie viele andere Texte des Bandes einem verzweifelten Gebet gleicht. In "Maische" findet man einige ganz einfache, gleichwohl suggestive Gedichte, deren dunkler Glanz einzigartig ist in der Dichtung dieser Jahre. Wie zum Beispiel das zarte und tragische Mailied. Es spricht in wenigen Versen von jenem Weg vom "Helleren ins Dunkle", der zum Leitmotiv dieses Buches geworden ist:

    Maikehlchen Kuckuck
    Lockst leichthin mich vom
    Helleren ins Dunkle fielst
    Pfeilbrüstig ins Laubmeer
    Halbherzig tanz ich deine
    Terz dir nach hinab hinab



    Wolfgang Heidenreich: Maische. Gedichte 2006-2007. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2007.