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"Was bleibt denn überhaupt heute noch geheim?"

Die Veröffentlichung von Geheimdokumenten über den Afghanistankrieg bei der Internet-Plattform WikiLeaks zeige, dass Politik und Militär immer mit der Weitergabe von Informationen rechnen müssten, sagt Horst Teltschik, ehemals Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Es stelle sich die Frage, wie man überhaupt noch strategische Entscheidungen treffen könne.

Horst Teltschik im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 28.07.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Es ist nicht das erste Mal gewesen, dass die Internet-Plattform WikiLeaks auf seinen Seiten geheime Dokumente aus dem Afghanistankrieg veröffentlichte. Schon vor Monaten hatten ihre Betreiber für Schlagzeilen gesorgt, als sie ein Video bekannt machten, auf dem war zu sehen und zu hören, wie amerikanische GIs afghanische Zivilisten töteten und auf zwei Reporter schossen. Nun also rund 90.000, meist als geheim eingestufte Dokumente, die laut "Spiegel" einen detaillierten Einblick geben in die Realität dieses Krieges. Das Weiße Haus reagierte alles andere als amüsiert. Allerdings ist die Begründung widersprüchlich.

    Am Telefon ist Horst Teltschik, der ehemalige außenpolitische Berater von Altkanzler Helmut Kohl und ehemals Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Guten Morgen, Herr Teltschik!

    Horst Teltschik: Guten Morgen, Herr Heckmann!

    Heckmann: Herr Teltschik, die US-Regierung sagt, die Veröffentlichung gefährde das Leben der Soldaten. Ist das eine Sorge, die berechtigt ist, auch mit Blick auf die deutschen Soldaten, oder ist es ein vorgeschobener Grund, der das Missfallen darüber belegt, dass eine andere Wahrheit ans Licht der Öffentlichkeit dringt?

    Teltschik: Herr Heckmann, das Problem liegt ja darin, dass WikiLeaks noch über 100.000 zusätzliche Dokumente verfügt, die sie selbst nicht veröffentlicht haben, weil sie angeblich besonders geheime Informationen enthalten. Wenn man davon ausgeht, dass hier Berichte in die Öffentlichkeit geraten, die geheim bleiben sollen, dann können Sie nicht ausschließen, dass es Dokumente gibt, die konkret das Leben von Soldaten gefährden, weil da können ja auch Einsatzpläne dabei sein. Man muss sich doch generell fragen: Was bleibt denn überhaupt heute noch geheim? Ob das jetzt im Kriegsfall ist, ob das Bankenkonten sind, was immer.

    Heckmann: Aber Herr Teltschik, wie können diese Informationen zugleich gefährlich und irrelevant sein?

    Teltschik: Beides. Ich meine, das, was wir jetzt über die Medien erfahren, das sind ja Informationen, die seit Jahr und Tag bekannt sind – nicht in diesen Details, aber dass Krieg geführt wird, dass Kommandos unterwegs sind, die einzelne Führer der El Kaida oder der Taliban oder Drogenbarone verfolgen, dass das CIA einbezogen ist. Das sind doch alles Daten und Informationen, die wir seit Jahren kennen.

    Heckmann: Das Bild, Herr Teltschik, das Militärs vom Krieg zeichnen, ist naturgemäß interessegeleitet. Ist es nicht ein Verdienst von WikiLeaks, dass das offizielle Bild zumindest ergänzt wird?

    Teltschik: Ja; gut, wenn solche Informationen den Medien zugespielt werden, dann ist es keine Überraschung, dass sie veröffentlicht werden. WikiLeaks, wer kannte WikiLeaks vor wenigen Tagen? WikiLeaks ist jetzt weltweit in allen Munden und es trifft ja immer nur die demokratischen Länder, dass solche Informationen durchgestochen werden. I

    ch frage mich nur: Wie wollen Sie denn noch geheime Aktionen durchführen, wie will Politik oder Militär strategische, taktische Entscheidungen vorbereiten, wenn man heute immer damit rechnen muss, dass es irgendwo jemanden gibt, der über elektronische Instrumente solche Informationen vermarktet? Das mag zwar die Öffentlichkeit interessieren, die Politik ist nur aufgefordert und das Militär ist aufgefordert, nur das zu tun, was rechtens ist, denn sie müssen heute – und darin liegt, wenn Sie so wollen, der Vorteil der Veröffentlichung – damit, wenn es öffentlich wird, auch akzeptabel bleiben.

    Heckmann: Die Frage ist, ob die Aktionen, die dort durchgeführt werden, wirklich rechtens sind, denn die Dokumente, die scheinen ja zu belegen, nicht nur, dass die Taliban besser ausgestattet sind als zugegeben, dass der pakistanische Geheimdienst die Aufständischen unterstützt bei Anschlägen, sondern auch, dass amerikanische Spezialeinheiten wie die Task Force 373 auf dem Gelände des deutschen Lagers ins Masar-e Scharif stationiert sind und dass gezielte Tötungen stattfinden, auch im deutschen Gebiet.

    Teltschik: Dass amerikanische Spezialtruppen im deutschen Gebiet unterwegs sind, das wissen wir seit Jahren. Es gab ja auch deutsche Spezialgruppen, die dort eingesetzt waren, die natürlich mit Amerikanern zusammengearbeitet haben. Es sind über 40 Nationen vor Ort vertreten. Das Problem war ja und bestand darin, dass über Jahre keine Koordination stattfand, weder der militärischen Einsätze, noch der zivilen Aufbauhilfe. Wenn Sie allein die jährlichen Konferenzen und Münchner Sicherheitskonferenz verfolgt haben: Dort stand Afghanistan immer auf der Tagesordnung. Dort hieß es seit Jahr und Tag: Es gibt keine gemeinsame Strategie, es gibt keine Koordination der militärischen Einsätze mit der Aufbauhilfe und, und, und, und die Ausrüstung ist schlecht, die Ausrüstung der anderen Seite ist besser, die Zusammenarbeit mit Pakistan war immer ein Thema.

    Nur: Diejenigen, die damals nach Afghanistan gegangen sind, die Entscheidung getroffen haben vor neun Jahren sind relativ blauäugig dort hineingegangen. Das war rot-grüne Bundesregierung. Und wenn man in einen solchen Kampf hineingeht und es war von Anfang an ein Kampf, dann muss man auch wissen, wie man herauskommt.

    Heckmann: Herr Teltschik, Sie haben gerade eben gesagt, das ist seit Jahren bekannt, dass diese amerikanischen Spezialtruppen dort unterwegs sind, auch im deutschen Gebiet, und Sie haben ja auch angesprochen, dass es auch deutsche Sondereinheiten gibt. Dass es in dem Gebiet der Deutschen geheime Tötungsaktionen der Amerikaner stattfinden – ist das denn überhaupt von dem aktuellen Mandat gedeckt?

    Teltschik: Das müssen … Da bin ich kein Experte, wie weit das völkerrechtlich gedeckt ist, aber Sie müssen ja die Art des Kampfes sehen. Deutsche Soldaten oder amerikanische Soldaten stehen ja keinem Feind oder Gegner gegenüber, der wie in einem normalen Krieg, in Anführungszeichen, in Uniform auftritt, sondern es ist … früher hat man das Partisanenkrieg genannt. Und in einem Partisanenkrieg gibt es Tote, und es gibt auch tote Zivilisten. Wie können Sie denn kämpfen, … In jedem Krieg sind Zivilisten zu Tode gekommen, und wenn Sie dann noch die Kampfführung der Taliban sich vor Augen führen, die sich hinter Zivilisten verstecken, die sich in Schulen verstecken, in Dörfern verstecken und sie kämpfen und dann fallen einzelne Talibanführer – ist das gezielt, ist das Zufall oder wie wollen Sie das benennen?

    Heckmann: Aber gibt es nicht einen Unterschied zwischen einem Kampf, zwischen einem Gefecht mit Taliban, wo Opfer dann zu verzeichnen sind, und dem Auftrag an Einheiten, an amerikanische Truppen, gezielt Personen zu töten?

    Teltschik: Ja, aber das ist doch seit Jahr und Tag auch bekannt, die Sondereinheiten der Deutschen … Die Frage ist ja, ist der gezielte Einsatz die klare Absicht, oder ist die Gefangennahme die vorherige Absicht? Das kann ich nicht beurteilen. Ziel müsste sein, die Talibanführer gefangen zu nehmen, nur das ist auch leichter gesagt als getan: Wenn ich mich verteidigen muss, dann erschieße ich sie lieber, bevor ich mich erschießen lasse. Das ist doch alles sehr relativ. Und dass von außen her, über die Öffentlichkeit und nicht vor Ort entscheiden und beurteilen zu wollen, ist doch, sind wir doch außerstande.

    Heckmann: Herr Teltschik, der nationale Sicherheitsberater unter Präsident Carter, Brzezinski, der hat Parallelen zu den Pentagon-Papieren über die Lügen des Vietnamkriegs gezogen – dessen Veröffentlichung hat im Jahr 1971 die Stimmung in den USA gegen den Krieg gedreht – und er hat gesagt, auch Obamas Team könnte nun die Kontrolle über seine Strategie verlieren. Sehen Sie auch diese Gefahr?

    Teltschik: Ja, diese Gefahr haben wir doch seit vielen Jahren, dass dieser Krieg … Ja, ist es ein Krieg? Wir haben ja nicht mal den Mut gehabt, zu sagen, dass es ein Krieg ist. Dieser Krieg ist von Anfang an unpopulär gewesen und wie gesagt, seit neun Jahren hat sich die Lage nicht verbessert, sondern verschlechtert, und es ist heute Obamas Krieg, leider, und er muss sehen, wie er ihn beenden kann. Es hat ja jetzt einige Konferenzen gegeben, sie versuchen, eine Strategie zu finden, wie man aus diesem Krieg herauskommt.

    Heckmann: Und, gibt es einen Ausweg?

    Teltschik: Ja, was mich wundert, ist: Ich würde endlich mal alle Nachbarstaaten Afghanistans an einen Tisch bringen, ob das China, Indien, ob das Pakistan, ob das Iran ist, und mal … weil alle konkrete strategischen Interessen vor Ort haben, und mit ihnen besprechen, wie man Afghanistan stabilisieren kann. Ich weiß nicht, warum es USA und NATO sich das ausschließlich zu ihrem Krieg machen, wo alle anderen Nachbarstaaten viel stärkere und größere Interessen haben vor Ort als wir.

    Heckmann: Über die Veröffentlichung der geheimen Afghanistan-Dokumente auf WikiLeaks haben wir gesprochen mit Horst Teltschik, dem ehemaligen Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Herr Teltschik, danke Ihnen für das Gespräch!

    Teltschik: Gerne, Herr Heckmann!