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Nach Abzug einige afghanische Städte als Festungen

Die Zukunft Afghanistans sei nach dem Abzug der Schutztruppen ungewiss, sagt der pakistanische Autor und Taliban-Experte Ahmed Rashid. Einige wenige Städte würden wohl zu Festungen. Rashids Buch "Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und der Westen" ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Ahmed Rashid im Gespräch mit Christoph Heinemann | 25.10.2012
    Ahmed Rashid: In Pakistan überlagern sich mehrere Krisen: Da sind territoriale Fragen, die Taliban, Aufstände in zwei der vier Provinzen. Eine kritische wirtschaftliche Lage. Der Zusammenbruch der Strom- und Gasversorgung, also eine Energiekrise. Schlechte Beziehungen zu allen Nachbarländern. Ein sehr gespanntes Verhältnis zu den USA und der NATO. Viele nennen Pakistan inzwischen einen gescheiterten Staat. Das tue ich noch nicht, aber Pakistans Potenzial des Scheiterns ist sehr hoch. Es sei denn, die pakistanische Führung ändert in einigen Bereichen ihre Politik und führt Reformen durch.

    Heinemann: Die Beziehungen zwischen Pakistan und den USA befinden sich auf einen Allzeit-Tief. Mit welchen Folgen?

    Rashid: Die Folgen sind schwerwiegend: Wirtschaftlich hängt Pakistan von Rettungsaktionen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ab. Und das ging immer über die USA. Die Beziehungen zu den USA sind auch stark militärisch bestimmt. Unsere besten Waffensysteme sind amerikanische Fabrikate, die wir mit finanzieller Unterstützung der USA gekauft haben. Wenn diese Unterstützung endet, wie dies der Kongress plant, wird das Militär offensichtlich in eine sehr kritische Lage versetzt.

    Heinemann: Heißt das, dass Pakistan kein verlässlicher Partner beim Abzug der US-Truppen aus Afghanistan sein wird?

    Rashid: Ich hoffe, dass Pakistan ein verlässlicher Partner sein wird und dabei für Erleichterungen beim US-Abzug sorgen und eine Art Friedensabsprachen zwischen den Taliban und den Amerikanern einerseits und andererseits zwischen den Taliban und dem afghanischen Präsidenten Karsai vermitteln wird. Pakistan kann eine solche Rolle spielen, denn der größte Teil der Talibanführung lebt in Pakistan. Deshalb übt Pakistan einen großen Einfluss auf die Taliban aus. Pakistan sollte eine solche Initiative ergreifen und für einen regionalen Konsens über einen Frieden in Afghanistan sorgen. Alle Nachbarstaaten mischen in Afghanistan mit. Die müssten sich an einen Tisch setzen und sich zur Nicht-Einmischung verpflichten. Und Pakistan sollte den Taliban eine Frist setzen, bis zu deren Ablauf sie das Land Richtung Afghanistan verlassen haben müssen. Das würde die Sache beschleunigen.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk – ein Interview mit dem pakistanischen Journalisten Ahmed Rashid. - Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie der pakistanische Geheimdienst ISI die Taliban unterstützt. Wer kontrolliert diesen Geheimdienst?

    Rashid: Die Armee. Armeechef General Parvez Kayani. Eigentlich sollte der ISI dem Premierminister zuarbeiten. Das tut er wohl auch. Aber der Premierminister trifft nicht die Entscheidungen, die die Sicherheit oder die Außenpolitik gegenüber Indien und Afghanistan betreffen. Diese Entscheidungen trifft die Armee.

    Heinemann: Die pakistanische Regierung möchte eine Rückkehr der Taliban an die Macht verhindern, andererseits unterstützt der Geheimdienst ISI die Taliban. Welche Interessen verfolgt Pakistan in Afghanistan?

    Rashid: Es gibt verschiedene Interessen. Das Wichtigste ist, dass Indien nach dem amerikanischen Abzug keine wichtige Rolle in Afghanistan spielt. Man wird Indien nicht restlos ausschalten können, denn Indien hat Afghanistan finanziell stark unterstützt und gilt vielen Afghanen als befreundet. 2015 wird in Afghanistan ein neuer Präsident gewählt. Frieden und Stabilität in Afghanistan liegen im pakistanischen Interesse, sodass die Afghanen eine legitime Regierung wählen können, ohne dabei von den Taliban gestört zu werden. Deswegen sollte Pakistan bei dem Friedensprozess helfen.

    Heinemann: Haben die US-Regierungen wesentlich zur gegenwärtigen Instabilität beigetragen?

    Rashid: Zweifellos. In meinem letzten Buch "Sturz ins Chaos" habe ich die vielen Fehler der Regierung unter Präsident Bush im Zusammenhang mit Afghanistan beschrieben. Der erste war der Einmarsch in den Irak. Anstatt sich auf Afghanistan zu konzentrieren und Truppen und Geld dorthin zu schicken, sind sie in den Irak gegangen. Aber auch die Obama-Regierung hat Fehler gemacht: Einer der größten war, dass Obama die Aufstockung der Truppen in Afghanistan, die eigentlich kein Fehler war, damit verband, dass er den Termin 2014 für den Abzug der Truppen aus Afghanistan bekanntgab. Wäre dieses Rückzugsdatum etwas offener oder wäre es nicht in dieser Art verkündet worden, hätten wir heute vielleicht eine andere Lage.

    Heinemann: Das heißt, dieser Zeitplan stärkt die Taliban?

    Rashid: Potenziell ja! Und Länder wie Pakistan könnten denken: Wieso sollen wir jetzt Friedensanstrengungen unternehmen? Wir warten bis 2014, bis die Amerikaner abgezogen sind. Dann können wir ohne sie handeln und dabei mehr herausschlagen.

    Heinemann: Kann die Kontrolle über die Sicherheit bis 2014 vollständig an die Regierung in Kabul übergeben werden?

    Rashid: Das ist keine Frage, das wird so kommen, wahrscheinlich schon zu Beginn des nächsten Jahres. Aber ich glaube nicht, dass die afghanische Armee schon so weit ist: 90 Prozent Analphabeten, 20 Prozent desertieren. Die afghanische Armee wird – so wie nach dem sowjetischen Rückzug 1989 – eine, wie ich sie nennen möchte, "Strategie der Festung Kabul" verfolgen. Sie werden vier, fünf oder sechs der größten Städte zu Festungen ausbauen. Die werden sie nicht verlassen. Die Kontrolle über das Land und die Straßen werden sie an die Taliban verlieren. Und diese Städte werden unter Umständen belagert werden. Bis 2014 muss dieser Krieg beendet werden. Wenn die Amerikaner abziehen, sollte relativer Frieden herrschen. Es sollte zumindest einen Waffenstillstand mit den Taliban geben. Dann kann man Wahlen abhalten und neue politische Strukturen aufbauen. Karsai wird dann nicht mehr Präsident sein. Aber als Erstes muss der Krieg enden. Wenn nicht, dann bleibt ein ganzes Land unter Waffen zurück: mit Milizen, Warlords, ethnischen Gruppen. Wenn man bis dahin keine Absprachen mit den Taliban getroffen hat, besteht die Gefahr, dass der Bürgerkrieg fortgesetzt wird. In Teilen Afghanistans wird es gegen die Taliban gerichtete Reaktionen geben und der Bürgerkrieg könnte sich noch viel schlimmer entwickeln.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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