Russische Literatur

Wunder und Abgründe

Altes Buch mit vergilbten Seiten und angestoßenen Kanten am Buchdeckel, aufgenommen am 2.4.2012. Foto: Jens Kalaene dpa/lbn
Leonid Dobytschins Markenzeichen war seine eigenwillige Syntax © dpa / Jens Kalaene
Von Katharina Döbler · 07.01.2014
Intime Wahrnehmungen, obsessive Naturliebe und eine eigenwillige Syntax kennzeichnen das Werk des russischen Schriftstellers Leonid Dobytschin. Ein neues Buch versammelt seine Erzählungen. Ein Leseerlebnis, wie eine Entdeckungsreise in einen Mikrokosmos.
Es war der Nobelpreisträger Joseph Brodsky, der 1987 plötzlich behauptete, der größte russische Prosaschriftsteller des 20. Jahrhunderts sei Leonid Dobytschin gewesen. Leonid wer? Kaum jemand kannte diesen Autor von zwei schmalen Erzählbänden und einem Kurzroman, der 1935 erschienen war. Ein Jahr später wurde Dobytschin vor dem Leningrader Schriftstellerverband des "Formalismus" angeklagt und verschwand spurlos. Niemand weiß, ob der 42-Jährige Selbstmord beging, unfreiwillig "verschwand" oder untertauchte. Erst in den Jahren der Perestroika kamen sein überschaubares Werk wieder ans Tageslicht, manches wurde auch erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht, etwa der kleine Roman "Schurkas Verwandtschaft".
Dass Dobytschin auch dem deutschen Publikum zugänglich wurde, ist vor allem der "Friedenauer Presse" zu verdanken: Dieser kleine Berliner Verlag, der so schön gestaltete Bücher macht und dieses Jahr sein 50. Gründungsjubiläum feiert, hat sich seit jeher die russische Literatur und deren eher abgelegene Gebiete zur Aufgabe gemacht.
Nun sind sämtliche Erzählungen Dobytschins in einem Band erschienen, darunter auch die Novelle "Evdokija", die den Vorabend des Ersten Weltkriegs in einer lettisch-russischen Stadt schildert. Mit Vorliebe nimmt Dobytschin den Alltag, die Gedanken, die Antriebe und Sichtweisen von Menschen in den Blick, die gemeinhin nicht zu den Protagonisten der großen Geschichte und großen Romane zählen: Frauen, zumal ältliche Witwen, und Kinder. Er erhob das Abseits und die Auslassung zum literarischen Verfahren: Kein autorisierter Wahrheitserzähler, sondern Bruchstücke intimer und stiller Wahrnehmungen, manchmal auch obsessiver oder kaum eingestandener Naturliebe stehen – durchaus unerklärlicherweise – nebeneinander.
Dass Dobytschin dieses Verfahren auch nutzte, um sich der herrschenden Ideologie zu entziehen, lässt sich anhand von zwei Versionen ein und derselben Erzählung in diesem Band recht deutlich erkennen: "Die Tante" handelt von einem jungen Mann, der der bedrängenden Situation in der Großstadt – Lebensmittelknappheit, sexuelle Verstörung, politischer Druck – entkommen will. Für die Erstveröffentlichung 1931 unter dem Titel "Abschied" entschärfte Dobytschin den Text und machte ihn durch die vielen Andeutungen und Auslassungen für die zeitgenössischen Leser, die diese Verhältnisse ja zum Überdruss kannten, nur noch interessanter.
Der kürzlich verstorbene Übersetzer Peter Urban, dem das Werk Dobytschin eine Herzensangelegenheit war, hat versucht, Dobytschina sprachliche Besonderheiten, seine kalkulierten Abweichungen von korrekter Syntax und gewohntem Sprachgebrauch auch in der deutschen Fassung transparent zu machen. Das Resultat ist ein großer Fußnotenapparat, aber eben auch ein Leseerlebnis, das einer Entdeckungsreise in einen Mikrokosmos gleicht: Da ist nichts ohne Mühe zu haben – aber welche Wunder und Abgründe gibt es zu sehen!

Leonid Dobytschin: "Die Erzählungen"
Aus dem Russischen von Peter Urban
Friedenauer Presse, Berlin 2013
152 Seiten, 22,50 Euro

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