Doch lassen wir die Mäkeleien - sie könne nämlich nicht zerstören, was man bei der Lektüre in Händen hält: nämlich ein wichtiges und wertvolles Buch. "Wer möchte denn Goethe sein?", fragt Blumenberg gleich zu Beginn eines Aufsatzes - nein, nicht über Goethe, sondern über Thomas Mann. Blumenberg hält das klassische, überlieferte Bild Goethes zu recht für "jugendlastig". Er nähert sich deswegen Goethe nicht vom jugendlichen "Sturm und Drang" her, sondern vom Alter. Damit spießen die Zinken von Blumenbergs Gabel aber nur bestimmte Werke von Goethe auf: die beträchtlich aufgewerteten Gespräche mit Eckermann etwa, oder auch den musikalischen und brieflichen Kontakt mit Zelter, und natürlich den von Goethe im Alter abgeschlossenen "Faust". Ob man diese Ansicht teilt oder nicht - Blumenberg ist hier einer Meinung mit Nietzsche, der in seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen" über den 82jährigen Goethe hatte verlauten lassen, dass er "gern ein paar Jahre des >ausgelebten < Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufte einhandeln" wolle, um "auf diese Weise vor allen zeitgemässen Belehrungen durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben." Und wenn Blumenberg schließlich zum jungen Goethe vordringt, dann nur um "die formwidrige Wildheit des Anfangs und die zeremonielle Versteifung der späten Höflingsjahre" als die Kehrseiten einer Medaille zu sehen.
Den zusätzlichen Reiz des nachgelassenen Buches macht freilich aus, daß Goethe nicht der einzige im Seniorenheim der ausgelebten Erwählten bleibt: neben dem 82jährigen Goethe (und damit natürlich neben dem über 70jährigen Blumenberg) treffen sich dort noch andere Autoren und Philosophen um die 80: Thomas Mann, Sigmund Freud und natürlich Fontane. Selbst Hundertjährige sind anzutreffen: nein, keine Angst!, nicht Ernst Jünger, dafür aber der Aufklärungsphilosoph Le Bovier de Fontenelle. (Und wäre der hochmusikalische Blumenberg nicht im Bereich protestantischer Kirchenmusik und bei Johann Sebastian Bach stecken geblieben, er hätte mit Richard Strauss noch einen weiteren >Ausgelebten> dieses Jahrhunderts in Betracht ziehen können.)
Zumindest bei Thomas Mann hat die ständige Anwesenheit im überzeitlichen Seniorenkolleg noch einen zusätzlichen Grund: Hans Blumenberg war noch Sextaner am Katharineum in Lübeck, als der poeta laureatus zur 400 Jahr -Feier des Gymnasiums einen Vortrag hielt. Eben dieses Gymnasium hatte auch Thomas Mann in seiner Jugend besucht. Und ob es nun an dem Entwurf einer idealen Erziehung zum hanseatischen Cortegiano lag, oder an dem gespreizten Auftreten des bekannten Autors - zwischen Blumenberg und Thomas Mann bleibt eine latente Konkurrenz, die - und das macht die Sache noch interessanter- nicht nur um spätere Würdigungen durch die Heimatstadt Lübeck kreist- sondern eben auch um Goethe. Und da Thomas Manns Lotte-Roman 1931 noch nicht geschrieben ist, arbeiten der erwachsene Blumenberg und der erwachsene Thomas Mann, dem Generationenunterschied zum Trotz, später parallel an Goethe. Dabei läßt der Vorwurf Blumenbergs an die Adresse Thomas Manns an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: wie denn Thomas Mann dazu komme, hören wir Blumenberg hinter allen diesbezüglichen Texten fragen, den Namen Goethes immer nur als Paßwort für Einzahlungen auf das eigene Konto zu mißbrauchen? Thomas Manns Selbstinszenierung als Goethe-Metamorphose und -Wiedergeburt ist für den Auch-Lübecker unüberhörbar und zweifellos Stein des Anstoßes. Für den Leser ist es freilich vergnüglich, nachzuverfolgen, wie Blumenberg seinen älteren Mitschüler vorführt: denn wenn schon Goethe-Metamorphose, dann wird man ja wohl auch die kleine Cynthia , die Thomas Mann im hohen Alter in Amerika trifft, und die dem literarischen Großmeister schon ein paar Hormon-Pillen wert ist, mit ihrer Vorgängerin Ulrike von Levetzow vergleichen dürfen, die Goethe in der "Marienbader Elegie" verewigt hat.
An diesem Punkt ist Blumenberg aber auch ehrlich genug zu sagen, warum er selbst Goethe braucht: nämlich um der Alters- Eitelkeit eines ausgelebten Lebens zu entgehen. Zitat: "Beiläufig steht einer, der in höheren Sphären vermutet und in den niederen nicht vermißt zu werden scheint, für ein Problem, das wir alle mit uns selbst haben: unsere Optik auf uns so einzustellen, daß sie uns weder demütigt noch bläht. Man muß ertragen können: die Welt, die anderen, das Andere (wozu der Schmerz und das Leid gehören) - vor allem sich selbst." Das will gelernt sein. Blumenberg weiß, daß er bei dieser Goethe-Sicht auf den Schultern eines anderen Philosophen steht. Denn es war wieder Friedrich Nietzsche, der dieser Lebensform einer "Distanz zu sich selbst" einen Namen zu geben gewußt und gesagt hatte: "Goethe zum Beispiel".