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Lucerne Festival
Ein Tag für Pierre Boulez

90 Jahre alt ist der Komponist Pierre Boulez in diesem Jahr geworden. Das Lucerne Festival gratuliert dem Jubilar und widmet ihm einen ganzen Tag mit mehreren Uraufführungen, unter anderem von Tod Machover.

Von Julia Spinola | 25.08.2015
    Der französische Dirigent und Komponist Pierre Boulez 2013 in Madrid.
    Der französische Dirigent und Komponist Pierre Boulez (dpa / picture alliance / EFE FILE / Ballesteros)
    Der Mann mit dem dunklen Lockenkopf ist ein hoch emotionaler Ekstatiker und zugleich ein scharfsinniger Denker. Die Sätze sprudeln in einer irren Geschwindigkeit, aber mit hoher Präzision aus ihm heraus. Und immer findet Tod Machover plastische Bilder, um einen komplizierten Sachverhalt anschaulich werden zu lassen: Etwa wenn er erklärt, wie differenziert die von ihm erfundenen Hyperinstrumente auf die verschiedenen Bewegungen ihrer Spieler reagieren. Dagegen kommen Machover die meisten live-elektronischen Verfahren zur Klangmanipulation doch eher wie gewöhnliche Küchenmixer vor, die alles nach der gleichen Methode zu Brei verarbeiten - ganz gleich, ob es ein Apfel war oder eine Möhre, die man oben hineingesteckt hat. Machover versteht sich nicht nur als Komponist, sondern auch als Erfinder und als "educator", als Erzieher.
    Früh schon war er als Director of Musical Research an dem von Pierre Boulez gegründeten IRCAM-Institut in Paris tätig. Heute forscht, komponiert und lehrt Machover am berühmten Massachusetts Institute of Technology. Doch er ist alles andere als ein praxisferner Tüftler und Bastler. Eher schon einer, der besessen an die Möglichkeit glaubt, mit musikalischen Erfindungen die Welt ein Stück zu verbessern.
    "Re-Structures" heißt das Werk, das Machover für die Luzerner Hommage an Pierre Boulez komponiert hat. Es greift auf Boulez' frühe Kompositionen "Structures I" und "Structures II" zurück, die zu den Pionierwerken des Serialismus zählten. Machover möchte jedoch zeigen, welche Emotionalität und Ausdruckswucht er unter der Oberfläche der strengen Konstruktion in diesen Werken von Boulez wahrnimmt. Wie Boulez' Komposition ist auch Machovers Stück für zwei Klaviere geschrieben. Hyperinstrumente kommen nicht zum Einsatz, dafür jedoch elektronisch produzierte Klänge, die sich ins Spiel der beiden Pianisten mischen. Es ist eine wilde Ausdruckslandschaft, die dieses Stück ausbreitet. Harte Clusterballungen und akkordische Repetitionen treiben auf dem Höhepunkt schließlich eine melodisches Muster aus sich hervor, das ein wenig an Stravinskys "Sacre du printemps" erinnert.
    Als "Hyperinstrument" anderer, nämlich rein akustischer Art ließe sich das Ensemblestück "sur Incises" beschreiben, das Pierre Boulez 1996 komponierte und 2006 überarbeitete. Der Klang von drei Klavieren, drei Harfen und drei Schlagzeugern verschmilzt hier zu etwas wie einem neunköpfigen Hyperklavier. Die kristalline Farbenpracht von Pierre Boulez' Musik kam unter der Leitung von Matthias Pintscher in dieser Aufführung mit den Absolventen der von Boulez gegründeten Lucerne Festival Academy eindrucksvoll zur Geltung. Nur drei Probentage standen den Studenten zur Verfügung, um das insgesamt mehr als sieben Stunden dauernde Riesenprogramm der elf Konzerte dieses "Tages für Boulez" zu proben.
    Was Pintscher, der mit zwei eindringlichen Werken im Programm der Hommage auch als Komponist vertreten war, aus dem frisch zusammengewürfelten Ensemble herausgeholt hat, ist ganz erstaunlich. Dies umso mehr, als die Auftragswerke zum Teil erst in letzter Sekunde fertiggestellt wurden. Manche der neuen Werke muteten eher als Fußnote zum Schaffen von Boulez an. So sandte Wolfgang Rihm einen sehr poetischen, für seine Verhältnisse ungewohnt zart und verhalten klingenden "Gruß-Moment" für den Meister. Höhepunkt des großen Symphoniekonzerts, das den Boulez-Tag nach sieben Neue-Musik-gesättigten Stunden beschloss, war jedoch die Uraufführung von György Kurtags "Petite musique solennelle en hommage à Pierre Boulez". Wie man in nur sechs Minuten, mit sparsamsten Mitteln und ohne jede Effekthascherei eine kleine Welt entwerfen kann, die in jedem Takt atmosphärisch dicht und stimmungsvoll gerät, - davon könnten sich die Komponisten der jüngsten Generation, die auf dem Festival vertreten waren, noch Einiges abgucken.