Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Mord in Moskau

Worum es in diesem Roman geht, ist schnell erzählt. Eine Leiche im Treppenhaus, keine Zeugen und eine Hauptverdächtige Kira Jatt. Denn ausgerechnet vor ihrer Haustür wird der Chefredakteur des Wochenmagazins "Der Moskauer" erschossen aufgefunden. Und zwar an dem Abend, als er Kira, die seine Stellvertreterin ist, in ihrer Privatwohnung besuchen wollte, um mit ihr etwas Geschäftliches zu besprechen, wie sie zu Protokoll gibt...

Von Elena Beier | 19.05.2005
    Die Miliz will eine schnelle Auflösung des Falls und konzentriert ihre Ermittlungen darauf, Kira des Mordes an ihrem Chef zu überführen. Kiras halbwüchsiger Sohn nutzt die Gelegenheit und alarmiert seinen Vater. Die große Hoffnung des Jungen: Seine geschiedenen Eltern wieder zusammen zu bringen. Die Ermittlung auf eigene Faust führt tatsächlich zum Erfolg: Der wahre Mörder wird überführt und Kira bekommt ihr zweites Kind von dem nun wieder Ehemann Sergej. Ein Happyend auf der ganzen Linie...

    Dass man so eine Geschichte auf 380 Seiten erzählen kann, ohne es nur für einen Augenblick langweilig wird, scheint unmöglich. Doch Tatjana Ustinova wird nicht umsonst als die Königin des russischen Frauenkrimis gefeiert. 12 Millionen verkaufte Exemplare - allein in der russischen Sprache - bestätigen: Wir haben es hier mit einem neuen Phänomen der russischen Literatur zu tun.

    Dieses Phänomen heißt Frauenkrimi. Sein Siegeszug durch die Weiten Russlands begann vor etwa 10 Jahren. Als "literarisches Fastfood" von den Kritikern abgetan, bahnten sich diese bunten billigen Taschenausgaben mit gnadenlos banalen Titeln ihren Weg zur Spitze der Bestsellerlisten. Die Zeiten, als in der Moskauer U-Bahn Tolstoi und Dostojewskij gelesen wurden, waren damit endgültig vorbei. Auch russische Frauen haben endlich das bekommen, was ihnen offensichtlich ermöglicht, ihrem harten Alltag zu entfliehen. Die modernen Russinnen identifizieren sich mit den Hauptfiguren von Tatjana Ustinova besonders gern: Starke, schöne Frauen - Heldinnen dieser Romane - kämpfen sich erfolgreich durch die männerdominierte russische Realität. Sie ermittelten schneller als die trottelige, korrupte Miliz und gehen am Ende aus jeder nur so verstrickten Situation als Siegerinnen auf der ganzen Linie hervor, eine neue Liebe und einen gewaltigen Karrieresprung inklusive...

    Während die so genannten männlichen Krimis suggerieren, dass das Böse sich auch nach der Auflösung des Falls nur vorübergehend zurückzieht und bereits an der nächsten Ecke lauert, lässt Tatjana Ustinova ihre überwiegend weibliche Leserschaft im Glauben, dass das Gute am Ende doch siegen wird. In einem Land, wo der Alltag aus einem harten Überlebenskampf besteht, wissen das die Menschen anscheinend ganz besonders zu schätzen.

    Noch ein Grund für die unglaubliche Popularität von Tatjana Ustinova und ihrer zahlreichen Kolleginnen liegt in der Geschichte der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Solche Themen wie glückliches Privatleben und persönlicher Erfolg erleben im modernen Russland eine Blütezeit, denn in der sowjetischen, linientreuen Literatur galt es stets zuerst an die Erfüllung des Plansolls zu denken und erst dann an das Private... Daran konnten auch große russische Schriftsteller jener Zeit - von Bulgakow bis Sorokin - wenig ändern. Von der Mehrheit wurden sie kaum gelesen und noch weniger verstanden. Und so etwas wie Frauenliteratur gab es gar nicht.

    Nach dem Umbruch haben die Russinnen ihre Leidenschaft für Frauenkrimis entdeckt. Etwa ein Dutzend Autorinnen schreiben ihre Romane so schnell, dass der - oft nicht unbegründete! - Verdacht entsteht, dass sie das nicht ohne fremde Hilfe schaffen...

    Tatjana Ustinova ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Sie erhebt allerdings auch keinen Anspruch, an die große Tradition der russischen Literatur anzuknüpfen. Sie ist eine begabte Handwerkerin, die den Zeitgeist erkannt hat. Sie spielt auch gekonnt mit der neu entdeckten Begeisterung der Russen für Psychoanalyse und lässt den Hobby-Psychologen unter den Lesern ihren Spaß.
    "Blind ist die Nacht" ist einer der insgesamt drei Romane von Tatjana Ustinova, die dem deutschen Leser dieses Jahr präsentiert werden. Und wohl auch der beste. Denn die hervorragende Übersetzung von Ganna-Maria Baumgardt lässt keine Unstimmigkeiten und Nachlässigkeiten zu, was man von den Übersetzungen anderer Ustinova-Werke leider nicht behaupten kann.

    "Blind ist die Nacht" von Tatjana Ustinova ist ein flott geschriebener, gekonnt konstruierter, unterhaltsamer Krimi, der zudem auch einen Aufschluss über die neusten Entwicklungen in der modernen russischen Literatur gibt.