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Dialekte
Brauchtum oder Belustigung?

Dialekt ist nicht nur Tradition und Regionalkolorit, sondern spricht Menschen Eigenschaften zu, die manchmal negativ sind. Warum das geschieht, hat das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim erforscht.

Von Alfried Schmitz | 19.06.2014
    Die baden-württembergische Staatsministerin Silke Krebs (Bündnis 90/ Die Grünen) deutet am Freitag (09.09.2011) im Kino am Bollwerk in Stuttgart bei der Präsentation der überarbeiteten Imagekampagne des Landes Baden-Württemberg auf den Hauptslogan der Kampagne "Wir können alles. Außer Hochdeutsch". Die CDU-Vorgängerregierung hatte die Kampagne unter Protesten der damaligen oppositionellen Grünen ins Leben gerufen. Foto: dpa/lsw #Silke Krebs, Grünen-Staatsministerin in Stuttgart präsentiert die überarbeitete Imagekampagne des Landes Baden-Württemberg
    Silke Krebs, Grünen-Staatsministerin in Stuttgart präsentiert die überarbeitete Imagekampagne des Landes Baden-Württemberg ( picture-alliance/dpa//Bernd Weißbrod)
    Viele leidenschaftliche Dialektsprecher fürchten die Veränderung, den Verfall von Brauchtum und Tradition. Doch der reine, bodenständige Ursprungsdialekt ist wohl in keiner Region mehr anzutreffen. Er ist über die Jahre mit zeitgemäßen Ausdrücken und Redewendungen aus der Standardsprache, aus Nachbardialekten und aus der Sprache von Zuwanderern und Besatzern angereichert, viele Puristen werden einwenden, verfälscht worden.
    Die Dialektologie beschäftigt sich mit der Erforschung von Dialekten. Sie ist ein wichtiges Teilgebiet der Sprachwissenschaft und hat ihren Ursprung im 18. Jahrhundert. Ein Feld, bei dem es sehr enge und interessante Kooperationen und gemeinsame spannende Experimente mit einigen sozialwissenschaftlichen Fachbereichen gibt.
    Alfried Schmitz wollte mehr über die Arbeit in diesem Forschungsgebiet wissen und hat dazu mit Dr. Albrecht Plewnia gesprochen. Er ist leitender Mitarbeiter beim Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.
    Albrecht Plewnia:
    "Für weite Bereiche des deutschen Sprachgebietes ist es nach wie vor so, dass der Dialekt die Sprache der Primärsozialisation ist. Das ist die Sprachform, in der Sie zunächst einmal aufwachsen. Damit ist es der zentrale Identitätsanker."
    So begründet Albrecht Plewnia, wie wichtig der Gebrauch einer regional und lokal gefärbten Mundart für uns ist. Die Dialektforschung ist ein interessantes Feld, bei dem Sprach- und Sozialwissenschaften eng miteinander verbunden sind.
    Im 18. und 19. Jahrhundert begann man in Deutschland mit der systematischen Erforschung der Dialekte. Einer der wichtigsten Dialektologen war Johann Andreas Schmeller. Der Münchner Germanist erstellte zwischen 1827 und 1837 das Bayerische Wörterbuch, das von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften immer wieder neu bearbeitet wird und in seiner aktuellen Ausgabe mit über vier Millionen Einträgen aufwarten kann.
    Brüder Grimm und die Mundartwörter
    Auch schneller Zeitgenossen, die Brüder Grimm, wussten um die Bedeutung der Dialektforschung und nahmen Mundartwörter und regional gefärbte mundartliche Varianten in ihr berühmtes Deutsches Wörterbuch mit auf.
    Die frühe Mundartforschung war für die Sprachwissenschaftler eine mühsame Arbeit. So stellte der 1852 in Düsseldorf geborene Germanist Georg Wenker die nach ihm benannte Wenkerliste mit vierzig hochdeutschen Beispielsätzen zusammen, die er nach ganz bestimmten sprachwissenschaftlichen Kriterien erarbeitet hatte:
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    • 1. Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum.
    • 2. Es hört gleich auf zu schneien, dann wird das Wetter wieder besser.
    • 3. Tu Kohlen in den Ofen, damit die Milch bald zu kochen anfängt.
    • 4. Der gute alte Mann ist mit dem Pferd(e) auf dem Eis eingebrochen und in das kalte Wasser gefallen.
    • 6. Das Feuer war zu heiß, die Kuchen sind ja unten ganz schwarz gebrannt.
    • 7. Er isst die Eier immer ohne Salz und Pfeffer.
    • 11. Ich schlage dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, du Affe.
    • 15. Du hast heute am meisten gelernt und bist artig gewesen, du darfst früher nach Hause gehen als die anderen.
    • 17. Geh, sei so gut und sag deiner Schwester, sie soll die Kleider für eure Mutter fertig nähen und mit der Bürste rein machen.
    • 23. Wir sind müde und haben Durst.
    • 28. Ihr dürft nicht solche Kindereien treiben.
    • 36. Was sitzen da für Vögelchen oben auf dem Mäuerchen?
    • 39. Geh nur, der braune Hund tut dir nichts.//

    Über vierzigtausend Exemplare seiner Listen mit den heute vielleicht etwas skurril anmutenden Beispielsätzen schickte Georg Wenker ab 1876 zunächst an alle Schulen der preußischen Rheinprovinz, später an die des gesamten Deutschen Reiches. In einem Begleitschreiben bat er die Schulleiter, diese vierzig Sätze in ihren jeweiligen Heimatdialekt zu übertragen und an ihn zurückzusenden. Die Mustersätze waren von Wenke so aufgebaut, dass sie in der Übersetzung typische lautliche und grammatikalische Dialekt-Eigenarten hervortreten lassen mussten. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. 1887 lagen dem Sprachwissenschaftler 44.257 ausgefüllte Bögen vor. Die Grundlage für den von ihm erstellten Sprachatlas, in dem alle deutschen Dialekte kartografisch aufgeführt waren. Wenkes Arbeit wurde später durch Nacherhebungen aktualisiert und ist heute im Internet abrufbar.
    Albrecht Plewnia
    "Die Sprachwissenschaft hat ihre Anfänge in der Erforschung der Sprachgeschichte und dann der Erforschung der sprachlichen Variationen im Raum. Und nichts anderes ist ja die Dialektologie. Und beides hat natürlich auch mit sozialen Bezügen zu tun. Natürlich können Sie eine Sprachgeschichtsschreibung als Sozialgeschichtsschreibung betreiben. Inzwischen sind wir tatsächlich so weit, dass soziale Interaktionen in der Sprachwissenschaft in vielen Teildisziplinen eine sehr große Rolle spielen."
    Reinheitsgebot bei Dialekten
    Sagt Albrecht Plewnia vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Dort arbeiten die Sprachwissenschaftler besonders bei der Dialektforschung eng mit Sozialwissenschaftlern zusammen, weil es gerade in diesem Spezialbereich interessante Überschneidungen der beiden Wissenschaftsfelder gibt. Waren es früher Fragebögen mit anschließender mühseliger manueller Auswertung, steht den Wissenschaftlern heute moderne digitale Audio-Computertechnik zur Erhebung und Analyse von Feldforschungsstudien in den einzelnen Sprachregionen zur Verfügung.
    Eine wichtige Erkenntnis der Dialektforschung fasst Plewnia so zusammen.
    "Natürlich gibt es auch im Dialekt ein ähnliches Reinheitsgebot, wie Sie es auch für die Standardsprache sehr oft diskutiert sehen. Die Dialekte haben nur keine schriftlich kodifizierte Grammatik, wie das Standarddeutsche, über deren Einhaltung die Deutschlehrer mit ihren roten Stiften wachen würden, sondern es ist eine Grammatik, die ihre Gültigkeit im Diskurs erfährt. Natürlich werden auch Kinder, die im Dialekt sozialisiert werden, die im Dialekt aufwachsen, korrigiert, wenn sie sprachliche Formen brauchen, die nicht den Zielerwartungen entsprechen, weil sie abweichend sind, weil sie aus einem Nachbardialekt stammen oder weil sie aus dem Standard stammen. Auch das ist ja ein sozialer Verstoß. „So etwas sagt man hier nicht!"
    Ursprungsdialekt verwässert
    Viele leidenschaftliche Dialektsprecher fürchten die Veränderung, den Verfall von Brauchtum und Tradition. Doch der reine, bodenständige Ursprungsdialekt ist wohl in keiner Region mehr anzutreffen. Er ist über die Jahre mit zeitgemäßen Ausdrücken und Redewendungen aus der Standardsprache, aus Nachbardialekten und aus der Sprache von Zuwanderern und Besatzern angereichert, viele Puristen werden einwenden, verfälscht worden.
    Für Sprachforscher sind solche Übernahmen wohl eher ein Indiz für die Lebendigkeit eines Dialektes. Geprägt wird unser Sprachverhalten immer durch das gesellschaftliche Umfeld, in dem wir uns bewegen.
    "Zunächst einmal müssen Sie die soziale Sprache ihrer Umgebung beherrschen. Das kann natürlich eine sehr unterschiedliche sein. Die Gesellschaft zerfällt in viele Parallelgesellschaften. Eine dieser Parallelgesellschaften ist mit Sicherheit eine, in der Sie dialektale Bezüge nicht brauchen. In der Sie sich in sehr standardnahen Kontexten bewegen. In den regionalen Markierungen nicht nur nicht nötig sind, sondern sogar als störend und sozial abweichend empfunden werden.
    Schule, Studium, Beruf, Politik, Kunst, Kultur, Medien, Kirche oder Amtsgeschäfte können solche sozialen Umfelder sein, in denen der Dialekt nicht gefragt ist. Doch:
    Dialekte markieren Zugehörigkeit
    "Es gibt auch Segmente der Gesellschaft, die sehr regional organisiert sind, in der standardnahe Sprechweisen als sozial abweichend wahrgenommen würden und entsprechend sozial sanktioniert würden."
    "Wie zum Beispiel beim regionalen Vereinsleben oder beim kulturellen Brauchtum. Die meisten von uns bewegen sich natürlich in mehreren solchen sozialen Segmenten. Und da ist Flexibilität gefragt. Gut ist es, wenn man über verschiedene Sprachregister verfügt, über die man sich, je nach Bedarf, in verschiedene soziale Sprechweisen einwählen kann, um die soziale Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen zu erlangen.
    "Jugendsprache ist da ein sehr klassisches Beispiel. Sie können jugendsprachliche Marker setzen und damit ausweisen, dass Sie auch dieser jugendsprachlichen Gruppe zugehören, sofern Sie es denn wirklich tun. Das können Sie nur in einem bestimmen Lebensalter, um ernst genommen zu werden, sonst wird man Ihnen das auch sozial übelnehmen. Und am anderen Ende brauchen Sie in Abhängigkeit von den sozialen Kontexten in denen Sie sich bewegen eine gewisse standardsprachliche Kompetenz natürlich auch."
    Sächsisch am unbeliebtesten
    Wir können alles, außer Hochdeutsch, lautet der Slogan einer Imagewerbung für das Bundesland Baden-Württemberg. Es scheint, als ob Dialekte oder regionale Sprachfärbungen sympathiefördernd genutzt werden können. Viele herausragende deutsche Politiker stellen oder stellten ihre regionale Zugehörigkeit sehr selbstbewusst in der Öffentlichkeit zur Schau und symbolisierten dadurch Volksnähe. Konrad Adenauer, Theodor Heuss oder Franz Josef Strauß waren solche Mundartpolitiker. Dialektfärbung kann durchaus salonfähig sein. Aber Vorsicht, es gibt auch Ausnahmen, wie Albrecht Plewnia vom Institut für Deutsche Sprache weiß.
    "Wenn Sie Umfragen machen nach beliebten und unbeliebten Dialekten, landet das Sächsische jedes Mal weit hinten. Das ist aber systematisch nicht zu begründen. Es gibt keine objektiven sprachwissenschaftlichen Argumente, warum ein Dialekt schön oder nicht schön klinge. Das Wissen um Schönheit oder andere zugeschriebene Merkmale von bestimmten Sprachformen ist ein kulturell erworbenes. Wir haben vor einigen Jahren ein Projekt durchgeführt, wo wir Einstellungen zu Sprachen und Dialekten erhoben haben, in Kooperation mit den Sozialpsychologen der Universität Mannheim und haben in diesem Kontext auch ein kleines Experiment gemacht."
    Dabei wurde deutschen Probanden eine hochdeutsche und eine dialektgefärbte Sprachprobe vorgeführt. Die Aufgabe war es, diese Sprachproben mit sozialpsychologischen Merkmalen zu belegen.
    "Der Standard-Deutschsprecher wurde durchgehend als kompetent bewertet, als ernst zu nehmend, aber auch als ein bisschen arrogant, ein bisschen kühl und abweisend und so etwas. Der Dialektsprecher hingegen wurde als freundlich qualifiziert, aber auch als ein bisschen, naja, ein bisschen dumm."
    Als Gegenprobe führte man das Experiment auch in Tansania durch, mit Probanden, die über keinerlei Deutschkenntnisse verfügten. Sie sollten die Sprachproben alleine vom Klang her charakterisieren. Um eine bestimmte Vermutung zu stützen, wurden sie von den deutschen Wissenschaftlern bewusst auf eine falsche Fährte gelockt.
    "Wir haben denen die Sprachproben mit vertauschten Etiketten vorgespielt. Wir haben denen Dialekt vorgespielt und gesagt, dass sei unser Standard und wir haben denen Standarddeutsch vorgespielt und gesagt, das sei Dialekt. Und was ist rausgekommen. Natürlich genau das gleiche, aber genau umgekehrt. "
    Den vermeintlichen Standardsprecher hielten die Testpersonen für kompetent, obwohl er ja in Wirklichkeit Dialekt sprach und den vermeintlichen Dialektsprecher, der in Wirklichkeit Hochdeutsch sprach, hielt man für gemütlich aber dümmlich.
    "Das heißt, es sind ganz offenkundig Zuschreibungen, die wir erwerben. Wir wissen, dass so etwas wie Standardsprachlichkeit mit so etwas wie Kompetenz, Bildung, Distanz, Förmlichkeit und so etwas einhergeht und das umgekehrt so etwas wie Dialekt die Sprachform der Nähe ist, der positiven Emotion und andererseits auch der Bildungsferne. Und das übertragenen wir auf die Sprachformen, von denen wir gesagt bekommen, das sie dieses oder jenes seien."
    Sagt Dr. Albrecht Plewnia vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Alfried Schmitz hat den Sprachwissenschaftler dort zum Gespräch über Dialektforschung getroffen.