Dienstag, 30. April 2024

Archiv


In fremder Erde Wurzeln schlagen

So häufig auch in den Medien über das Schicksal von Vertriebenen berichtet wurde, so wenig thematisierte man die Folgen des Bevölkerungstransfers für die betroffenen Gebiete und ihre neuen Bewohner. Und die waren - und sind - nicht selten verheerend. Wie schwer es ist, in fremder Erde Wurzeln zu schlagen, das belegt die eindrucksvolle Fernseh-Dokumentationsreihe des Westdeutschen Rundfunks: "Als die Deutschen weg waren".

Von Henning von Löwis | 07.11.2005
    Der filmische Umgang mit Geschichte will gekonnt sein – und Könner, die sind rar gesät in der zusehends verflachenden deutschen Fernsehlandschaft. Gudrun Wolter und Beate Schlanstein, Redakteurinnen im WESTDEUTSCHEN RUNDFUNK, gehören zu jenen, die seit Jahren unter Beweis stellen, dass man Geschichte im Fernsehen nicht als filmische fast-food, nicht im Stile von Seifenopern oder Telenovelas darbieten muss – mit politisch korrekten Zeitzeugen und nachgestellten Spielszenen. Es geht auch anders – ganz anders: seriös, gut recherchiert, von kompetenten Autoren interessant, farbig, umgesetzt – ohne Schwarz-Weiß-Klischees, ohne Scheuklappen, ohne Antworten, die schon feststehen, bevor man Fragen stellt. Am Anfang der Dokumentationsreihe "Als die Deutschen weg waren" stand ein Katalog von Fragen, die zuvor im deutschen Fernsehen so nicht gestellt wurden:

    Was kam eigentlich nach der Vertreibung, wollten wir wissen. Was passierte, als die Deutschen in Ostpreußen, in Schlesien, im Sudetenland ihre Häuser und ihre Heimat verlassen mussten? Mit welchen Gefühlen haben die russischen Besatzer oder polnische oder tschechische Nachbarn Flucht und Vertreibung der Deutschen erlebt? Was geschah mit deren Hab und Gut? Was erfuhren die neu angesiedelten Bewohner über die Vergangenheit des fremden Ortes, der ihre neue Heimat werden sollte? Wie erging es den Deutschen, die sich weigerten zu gehen und sich gezwungen sahen, Tschechen oder Polen zu werden? Wie ging die Politik mit dem Erbe der Deutschen um? Wie stehen heute die 'Dagebliebenen’ zu dieser Vergangenheit? Und was finden Deutsche vor, die heute die alte Heimat bzw. die Heimat ihrer Eltern besuchen?

    Viele Fragen für drei 45-Minuten-Filme und ein Begleitbuch von 317 Seiten. Es war eine weise Entscheidung der Redaktion, nach Antworten nur in drei – mehr oder minder kleinen Orten – zu suchen: in Tollmingkehmen in Ostpreußen, Groß Döbern in Schlesien und Gablonz im Sudetenland. Und das erwies sich als schwer genug, wie Ulla Lachauer in Gablonz erfahren musste:

    "Sehr, sehr schwer, so schwer, wie ich es mir überhaupt nicht gedacht habe. Die Deutschen reden nicht gerne darüber, weil sie natürlich lange mit Tschechen zusammenleben – auch gut zusammenleben und den Frieden nicht aufs Spiel stellen wollen. Und die Tschechen haben noch nicht wirklich begonnen, darüber zu reden. Es bewegt sich immer noch im Rahmen so eines Klischees, das Klischee lautet: In Potsdam haben die Alliierten beschlossen, dass die Deutschen raus müssen. Wir sind dann rein gekommen, und es war wie eine Art Umzug. Und zwischendrin gab es einige Monate nach dem Krieg so eine Phase der so genannten Goldgräber, also wo Menschen kamen, plünderten, auch Gewalt anwenden, um Leute aus den Wohnungen raus zu treiben. Und das ist so wie, ja im Grunde wie die Diskussion ja auch nach dem Krieg in Deutschland war. Es waren ein bisschen die Außerirdischen, die sich schlecht benahmen und danach war alles in Ordnung."

    Der Graben ist tief, der Deutsche und Tschechen voneinander trennt – und daran ist offensichtlich nicht allein Adolf Hitler schuld.

    "Ich denke, dass die Vorgeschichte der Entzweiung der Völker, dass die doch zurückgeht bis ins 19. Jahrhundert, dass es ganz allmählich eskalierte. Peter Glotz hat das ja mal in einem Buch beschrieben vor nicht allzu langer Zeit, und diese große Katastrophe hat im Grunde eine sehr, sehr lange Vorgeschichte."

    Deutsche, die das Glück haben zu überleben – wie Christa Petrásková –, werden buchstäblich von Tschechen zu Tschechen geprügelt.

    "Christa Petrásková, die hat dieses als Kind erfahren. Das heißt, die tschechischen Kinder kamen. Sie haben sie und ihre deutschen Freunde geprügelt, bis sie eben diesen Satz sagten: Ich bin ein Tscheche, ich bin ein Tscheche - ja jsem Cech."

    Es ist eine tragische und zugleich faszinierende Lebensgeschichte, die Ulla Lachauer da in ausdrucksstarken Worten und Bildern nachzeichnet: die Geschichte der Christa Petrásková.

    "Für mich war das eine große Überraschung, wie eine Frau, die bei Kriegsende vier Jahre alt war – man sagt ja normalerweise, der Mensch erinnert sich zurück bis fünf Jahre, manchmal fünf Jahre in Krisenzeiten – und wie plastisch bestimmte Dinge bei Kriegsende dieser Frau gewesen sind, der kleinen Christa: Also, die Panzer fahren ein, es gibt Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Tschechen, ihrer Mutter passiert das, was damals vielen Frauen passiert. Sie ist also gewissermaßen ein traumatisiertes Kind, und sie hat dann eben danach große Schwierigkeiten, Tschechisch zu lernen. Sie wird von tschechischen Kindern gehänselt, geschlagen. Sie muss in der Schule knien, bis sie Tschechisch kann – das dauert ungefähr ein halbes, dreiviertel Jahr. Tja, und dann tritt sie eben den Weg ins Tschechische an. Und sie wird so gut in Tschechisch, sie spricht besser Tschechisch als ihre Klassenkameraden, und sie verliebt sich richtig in diese Sprache und später auch in einen tschechischen Mann. Und mich hat sehr fasziniert, wie diese eigentlich viel zu junge Zeitzeugin die ganze Zeit nach 1945 zu erzählen weiß und wie sehr sie auch eine Expertin ist in deutsch-tschechischer Geschichte, also die Geschichte der Völker miteinander, aber auch die Geschichte der Stadt Gablonz, die ja eine besondere war – die war ja mal die Welthauptstadt der Glasperlen und Knöpfe. Und sie hat dann, auf ihre alten Tage hat sie an der Karls-Universität in Prag studiert und eine Magisterarbeit geschrieben über die Knopfmacher von Wiesenthal, das ist ein Industriedorf in der Nähe von Gablonz."

    Für die Schriftstellerin und Filmemacherin Ulla Lachauer, die ihre literarische Reise durch Europas Osten einst an der Memel und am Pregel begann, ist das Sudetenland Neuland. Umso schärfer ihr Blick für Unterschiede, was den Umgang mit den dunklen Seiten der Geschichte in den Vertreiberstaaten angeht, beispielsweise zwischen Tschechien und Russland:

    "Ich denke, die Unterschiede sind groß – viel, viel größer, als ich früher dachte. Im Kaliningrader Gebiet, also heute Russisch-Ostpreußen, ist es eigentlich nicht so schwierig mehr. Die historische Situation ist ja auch anders - die Deutschen mussten raus, die Russen kamen, ohne eine historische Beziehung zu dem Gebiet zu haben. Da gibt es keine langen Vorgeschichten wie in Polen oder in Böhmen. Und irgendwann, als dann der Eiserne Vorhang aufging und das Gebiet geöffnet wurde, hat man dann angefangen, darüber zu sprechen. Und ich denke, man hat dort einen ganz guten Stand erreicht. Das zeigt auch der Artikel, den der Kollege Christian Schulz über das Dorf Tollmingkehmen geschrieben hat, wo im Mittelpunkt steht ein deutscher Gutsbesitzer, der als Kind von dort vertrieben wurde und heute dort humanitäre Hilfe leistet und sich um die Erhaltung seines Elterlichen kümmert und eben zugezogener Russen. Na, mit denen geht es eigentlich ganz gut."

    So vergleichsweise gut es auch gehen mag im Russischen Ostpreußen – das Gebiet zwischen Kurischer Nehrung und Rominter Heide ist heute ein völlig heruntergewirtschaftetes Stück Europa. Das Buch "Als die Deutschen weg waren" zeigt auf, warum das so ist, warum es soweit kommen musste. Hier wird nichts beschönigt, hier wird nichts verschleiert. Hier wird die Wahrheit nicht im Sinne von "political correctness" verbogen. Drei Filmemacher und drei Historiker präsentieren Fakten, dokumentieren, dass es nicht nur Millionen von Opfern gab nach Kriegsende 1945, sondern auch zahlreiche Täter – und zwar in allen Vertreiberstaaten. Doch während die Deutschen sich zu ihrer Täterrolle bekennen, besteht da insbesondere in Tschechien ein enormer Nachholbedarf. Gibt es wenigstens Ansätze eines Unrechtsbewusstseins?

    "Das ist sehr kompliziert zu beantworten. Ich denke, dass diese Medienauseinandersetzung – auf dieser Ebene nehmen wir das wahr -, dass die eher ungut ist, dass eigentlich, wie wir das in anderen Ländern auch erfahren haben, diese Auseinandersetzung darüber vor Ort stattfinden muss. Und die hat in Gablonz, was heute Jablonec heißt, sicher schon begonnen, aber sie steckt noch ganz in den Anfängen. Die Menschen müssen einander die Geschichten noch erzählen."

    "Als die Deutschen weg waren", begann für die Zurückgebliebenen und für die Neusiedler in Ostpreußen, Schlesien und im Sudetenland keine bessere Zeit. Im Gegenteil, zumeist ging es rapide bergab. Die Vertreibung trug nirgendwo Früchte. Langsam, sehr langsam beginnt man das zu begreifen.

    "Als die Deutschen weg waren", das ist ein wertvolles Stück historischer Aufklärung in Zeiten, da Geschichte andernorts in der Fernsehlandschaft neudeutsch als "History" vernebelt und gnadenlos vermarktet wird.

    Anmerkung am Rande: Einen "Kreis Tollmingkehmen" hat es nie gegeben, das vermeintlich "mecklenburgische Pasewalk" ist bekanntermaßen eine alte pommersche Stadt, und "das kenigsbergskaja oblast" wird gemeinhin als "die oblast" bezeichnet - vermeidbare Schnitzer, die kaum ins Gewicht fallen angesichts der Fülle des Gebotenen und der Qualität, mit der hier vom WDR Geschichte vermittelt wird. "Als die Deutschen weg waren" - drei Filme, ein Buch - ein Lehrstück für Fernsehen mit Niveau.

    Henning von Löwis über: Als die Deutschen weg waren. Was nach der Vertreibung geschah: Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland. Das Buch zur ARD-Fernsehserie ist – ohne Angabe eines Herausgebers übrigens - veröffentlicht im Rowohlt Berlin Verlag, es umfasst 309 Seiten und kostet 19 Euro und 90 Cent.