Politik des Dialogs

Von Jürgen König · 07.08.2012
Westdeutsche Sozialdemokraten und ostdeutsche Kommunisten veröffentlichten vor 25 Jahren ein gemeinsames Papier. Darin ging es unter anderem um Fragen der Friedenssicherung, des friedlichen Wettbewerbs der Gesellschaftssysteme und um die Notwendigkeit einer Kultur des politischen Streits. Nun diskutierten Zeitzeugen über das Papier.
Eine "Sensation" sei das Papier gewesen, meint Günther Heydemann vom Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung:

"Erstmals hatte eine durch und durch demokratische Partei zusammen mit einer durch und durch diktatorischen Partei ein gemeinsames Manifest formuliert."

Durfte eine "durch und durch demokratische Partei" sich mit einer "durch und durch diktatorischen Partei" in einem Manifest mit einer Stimme sprechen? Für Erhard Eppler ist der Fall klar, und man merkt dem heute 85-Jährigen an, wie wichtig ihm dieser Text noch heute ist: Die gemeinsame Friedenssicherung habe damals in der Hochphase des Kalten Krieges, angesichts des atomaren Wettrüstens der beiden Supermächte, den Schritt über ideologische Grenzen hinweg unabdingbar gemacht und im übrigen: Sah die kommunistische Ideologie nicht vor, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen von ganz alleine scheitern werde? Bedeutete es nicht für die SED schon ein Wagnis, überhaupt in einen intellektuellen "Streit der Ideologien" einzutreten? So, erzählt Erhard Eppler, habe er Willy Brandt das Vorhaben schmackhaft gemacht.

"Und habe dann gesagt: Weißt Du, Willy, die Basis unserer Autoritäten, also etwa auch der Bundesregierung, sind freie Wahlen, die Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung. Die Basis der Herrschaft der SED ist die Wahrheit des Marxismus-Leninismus.

Weil der Marxismus-Leninismus wahr ist, müssen wir ihn auch durchsetzen. Und wenn die SED zum ersten Mal bereit ist, über die Basis ihrer Macht mit uns zu diskutieren, dann geht
sie ein gewaltiges Risiko ein."

Was Willy Brandt "nicht unproblematisch, aber interessant" fand". Seit 1983 in der Opposition, sah sich die SPD herausgefordert, die erfolgreiche Ostpolitik der 70er-Jahre nun von der Partei aus weiterzuführen, ausdrücklich sollten die reformorientierten Kräfte der DDR unterstützt werden - die Staatspartei sollte mit ihrer Bevölkerung ins Gespräch gebracht werden.

"Die hintergründige Absicht, die wir hatten, war, und das hat ja auch einigermaßen gewirkt, dass die Leute in der DDR, dass die sagen: wenn ihr doch mit diesen Sozialdemokraten im Westen ... wenn ihr mit denen über eure Ideologie reden könnt - warum könnt ihr es eigentlich nicht mit uns?"

Es sei kein Papier der "Anbiederung" gewesen, sagt Erhard Eppler in fast beschwörendem Ton: Es sei darin doch die "grundsätzliche Friedensfähigkeit der anderen Seite" festgeschrieben worden, von der Notwendigkeit, Feindbilder abzubauen, war die Rede, vom Zugang zu freien Information, von der Notwendigkeit offener Diskussionen in beiden Staaten über Vorteile und Schwächen der jeweiligen Systeme, von der Notwendigkeit, gegenseitige Kritik nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten anzusehen - all das habe doch der gängigen SED-Haltung fundamental entgegengestanden.

"Wir wussten ganz genau, dass es unendlich schwierig sein würde, de facto Änderungen in der DDR zu schaffen. Und wir waren wirklich gespannt, nachdem dieses Papier da war - was passiert nur? Passiert etwas oder passiert nichts?

Wir waren nur der Überzeugung: Wenn dieses Papier in die Bevölkerung kommt und dann nichts passiert, dann wird es der SED schaden – und das hat es getan!"

Dazu der SPD-Politiker Stephan Hilsberg, 1989 Bürgerrechtler und Gründungsmitglied der Ost-SPD:

"Von der Hoffnung, die in diesem Papier mitschwingt, es möge sich doch endlich etwas tun, auch in der SED etwas tun, was so ähnlich aussieht wie das, was sich da unter Gorbatschows Ägide in Moskau abgespielt hat: Da verändert sich die Welt und in der SED verändert sich gar nichts, muss denn das so bleiben? Kann man hier nicht tatsächlich vielleicht dazu beitragen, dass Kräfte, die vielleicht in der SED auch vorhanden sind, einen ähnlichen Weg gehen?

Das war für meine Begriffe ein Stück der Impetus - und, um es ganz ehrlich zu sagen: Ich habe das für naiv gehalten. Ich habe diesem Papier keine Bedeutung beigemessen, ich habe das, was die SED betrieben hat, als Mimikry empfunden. Ich hatte das Gefühl, dass die Partei, mit der ich mich am meisten identifizierte, nämlich die Sozialdemokratie in der Bundesrepublik, der SED hier ein Stück auf den Leim gegangen war ... dass sie naiv war!"

Über die Gründe der SED, das Papier zu initiieren und voranzutreiben, es im Neuen Deutschland zu veröffentlichen und damit als offizielles Dokument erscheinen zu lassen, lässt sich noch heute nur spekulieren. Vielleicht ließ man die Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED einfach gewähren.

Manche dürften das Papier als Mittel gesehen haben, die Partei zu reformieren; nicht unwahrscheinlich ist, dass manche in der SED-Spitze erst nach der Veröffentlichung und dem lebhaften Interesse der Bevölkerung merkten, was der Text für sie an Zumutungen enthielt. Nur wenige Wochen später nahm der Chefideologe der SED, Kurt Hager, mit Sätzen wie "Unser Feindbild ist klar!" zentrale Passagen des Papiers wieder zurück.

Neues brachte der Abend in der "Bundesstiftung Aufarbeitung" nicht. Und war doch ein bewegter Abend im überfüllten Saal. Beeindruckend ist es, mitzuerleben, wie groß das Bedürfnis so vieler ist, sich über das Gewesene zu unterhalten, zu streiten, zu verständigen.