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Lars Norén am Schauspiel Köln
Ein Kaleidoskop mitteleuropäischer Großstadtschicksale

Regisseur Moritz Sostmann hat am Schauspiel Köln Lars Noréns Stück "3.31.93" auf die Bühne gebracht - mit Menschen und Puppen, die die Schicksale von behüteten Großstädtern darstellen. Das Stück zeigt, dass das Leben letztlich selbst für behütete Europäer ein langsamer Weg in einen zukunftslosen Abgrund ist, findet unser Kritikerin.

Von Dorothea Marcus | 13.11.2015
    Passanten auf der Oxford Street in London im August 2013
    Passanten auf der Oxford Street in London im August 2013 (picture alliance / dpa / Facundo Arrizabalaga)
    Über der dunklen, breiten Halle leuchtet rot und riesig die digitale Zahlenanzeige und zählt manchmal die Szenen mit. Denn der kryptische Titel "3.31.93" ist, wie so oft bei Lars Norén, ein schlichtes Ordnungsprinzip: in drei Teilen à 31 Szenen blitzen 93 Situationen in Schlaglichtern auf, als könne man mit numerischer Kontrolle dem Weltchaos begegnen. Das Stück ist ein Kaleidoskop mitteleuropäischer Großstadtschicksale, in dem sich Zeitebenen, Gesellschaftsschichten und Erzählstränge vermischen - wie man das in einer Großstadt eben erlebt: Parallelwelten, die gleichzeitig aneinander vorbeisausen. Auf der schwarzen Breitbandbühne des Depot 1 haben Regisseur Moritz Sostmann und sein Bühnenbildner Christian Beck einen weiß gedeckten, lang gestreckten Tisch gebaut, der Essenstafel oder Laufsteg sein könnte. Dahinter hängen im Schatten die Puppen an den Haken, halten sich die Darsteller wartend auf. Schön ist, wie man ihnen beim stummen Umarrangieren der wenigen Requisiten - Kaffeetassen, Stühle oder der Rollstuhl - zusehen kann. Eine elegante Choreografie, zu der aufmunternder, aber auch recht beliebiger Elektrosound klackert.
    Verschwunden sind Obszönität und Drastik, die sich durch Dramen von Lars Norén oft gezogen haben. "3.31.93" ist eine Art Alterswerk, denn vieles kreist um Vergangenheit und Erinnerung. Etwa, wenn eine Frau und ein Mann sich zu Beginn seiner Demenz auf sich selbst besinnen.
    "Tja. Jetzt haben wir viel Zeit. - So, haben wir das? - Was machen wir jetzt? - Tja. Sag du es mir! - Wenn wir wenigstens Kinder hätten, die groß sind. - Aber haben wir doch! Drei Stück. - Was hast du mit den Bildern gemacht? Den Fotos? Welche Fotos? Alles, was wir hatten! Wie konntest du! Du hast alles zerstört! Das war doch unser Leben! Alles, was wir hatten! - Mehr hatten wir nicht?"
    Was bleibt von einem Leben, wenn noch nicht mal Erinnerungen zählen? Nicht viel. Düster und melancholisch kreist Norén in den Miniaturen stets um einen Kern aus Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit. Unaufhörlich ist das Gehirn des Zuschauers damit beschäftigt, Zusammenhänge zu ergründen, auch dort, wo es keine gibt, weil manches nur ein Prototyp ist für größere Schicksalsdinge, die mehr oder weniger wohlhabenden Europäern, nicht bedroht von Hunger, Krieg oder Armut, zustoßen können, wenn die Zeit fortschreitet: Trennungen. Depressionen. Demenz. Schlaganfälle. Alkoholismus. Sterbende Eltern und manchmal sogar sterbende Kinder. Es ist auch den Puppen zu verdanken, wenn so etwas wie Humor und Leichtigkeit doch immer wieder mal durchscheinen. Fünf oder sechs Geschichten kristallisieren sich heraus, die immer wieder auftauchen, wenn auch chronologisch durcheinander.
    Langsamer Weg in einen zukunftslosen Abgrund
    Mal kommt da eine Frau mit ihrem Mann auf die Bühne, der früher Cellist war und auf einmal gelähmt, stöhnend und sabbernd im Rollstuhl sitzt. Mal verliert eine Frau ihr Kind kurz nach der Geburt und versinkt in Wahn und Depression, auch wenn sie längst ein Neues erwartet - und es dann nicht lieben kann. Dann wieder verlässt eine Frau ihren Mann, obwohl sie hochschwanger ist, und er zieht sich plärrend in sein einstiges Kinderzimmer zurück. Wieder ein anderes Mal trinkt sich eine Frau allein zu Tode, nachdem die Kinder aus dem Haus sind.
    "Ich komm jetzt rein! - Wo hast du die ganzen Möbel gelassen? Welche Möbel? Was ist denn das für ein Leben? - Ich habe alles, was ich brauche! - Jetzt tu ich das, was ich selber will. - Dich zu Tode saufen? - Ich habe keinen einzigen Tropfen getrunken, als ihr krank wart! Ich will allein sein! Es ist mein gutes Recht, so zu sterben wie ich will. Jetzt bin ich frei! Wie ein Vogel!"
    Selten hat man auf der Bühne so sehr vergessen, welche Szene von Puppen und welche von Menschen oder von beiden gespielt werden. Und dennoch verliert sich die Intensität mit der Dauer. Zu gleichförmig ist der melancholisch-düstere Grundton. Auch von der Regie wird das nicht aufgefangen. Über drei Stunden lang sieht man hier dem allzumenschlichen Vergehen der Zeit zu, den Schicksalsschlägen des Alltags.
    Das greift zuweilen wohl jeden an, aber ermüdet dann doch. Nur das Schlussbild spitzt Sostmann zu: Da steht der gelähmte Cellist vom Beginn als junger, kräftiger Mann, voller Zukunft, musizierend auf der Bühne und spielt, umringt von Baby-Darstellern mit vollen Windeln und Schnullern im Mund, im gleißenden Licht. Da gab es noch eine Zukunft. Das Stück zeigt, dass das Leben letztlich selbst für behütete Europäer ein langsamer Weg in einen zukunftslosen Abgrund ist, in dem sich Wege schließen und Tod und Selbstzerstörung immer näher kommen.