Dienstag, 30. April 2024

Archiv

Asiatisches Denken
Neue Weltsichten

In seinem neuen Buch "Denkzugänge" stellt der Sinologe und Philosoph François Jullien erste Sätze gegenüber – den des "I-Ging", dem "Klassiker der Wandlungen", wie der Titel des wohl ältesten Buches Chinas wörtlich übersetzt lautet, und den der biblischen "Genesis". Und zeigt so, wie viele andere Perspektiven es neben unserer westlichen auf die Welt gibt.

Von Astrid Nettling | 27.08.2015
    Auch in seinem neuesten Buch begibt sich François Jullien wieder weit fort – nach China, in sein "strategisches Anderswo", wie er es nennt, um von dort das, was unser Denken hier im Westen in seinen vor mehr als zweitausend Jahren gespurten Bahnen hält, besser in den Blick nehmen zu können. Diesmal widmet sich der Sinologe und Philosoph dem ersten Satz aus dem vermutlich ältesten Buch Chinas, dem "I-Ging", dem "Klassiker der Wandlungen", wie es wörtlich übersetzt lautet. Diesem Satz stellt er zwei weitere erste Sätze gegenüber – den Anfang aus der biblischen "Genesis", einem Text ebenso alt wie das "I-Ging", sowie den ersten Satz aus der "Theogonie" des Hesiod, dem Lehrgedicht vom Ursprung der Welt und der Götter, das zu den ältesten Quellen griechischer Mythologie zählt. Ihnen ist gemein, dass sie nicht bloß die ersten Sätze frühester Textkörper bilden, sondern selbst von ersten Anfängen sprechen und den Auftakt bis heute wirkmächtiger Denktraditionen darstellen.
    "(Der erste Satz) wirkt wie ein sich hebender Vorhang. Er sagt nicht, woher er kommt, schreitet ohne Rechtfertigung voran. Doch wie diskret sich dieser erste Satz auch präsentiert, er bewirkt doch eine Setzung. Kaum beginnt dieser erste Satz etwas zu äußern – in Gang zu setzen –, wirft er auf alle kommenden Entwicklungen und Umschwünge seinen Schatten voraus.
    "Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde", so beginnt die "Genesis". "Lasst mein Lied mich beginnen von Helikonischen Musen", die "Theogonie". "Initiatorisches Vermögen: Beginn-Aufschwung-Profit-Geradheit", lauten die ersten Schriftzeichen des "I-Ging". Wo der Schöpfungsbericht der "Genesis" geradewegs mit Gott anhebt, der mit inauguraler Geste aus dem Nichts Himmel und Erde schafft – wo in der "Theogonie" das Ich des Autors als erstes die Musen als Beistand anruft, wohlwissend um die Täuschungsanfälligkeit menschlicher Rede gerade, wenn es um Ursprung und Anfang geht –, da heißt es im "I-Ging" lediglich: "Initiatorisches Vermögen: Beginn-Aufschwung-Profit-Geradheit". Die Schriftzeichen, parataktisch nebeneinandergestellt, bilden weniger einen Satz, als dass sie wie Merksteine die aufeinanderfolgenden Punkte oder Phasen eines Ablaufs markieren. Beispielsweise den der Jahreszeiten. "Beginn" würde zum Frühling gehören, "Aufschwung" zum Sommer, "Profit", also, die Ernte, zum Herbst, und "Geradheit" zum Winter, weil dieser, redlich und solide, das im Winterschlaf ruhende "initiatorische Vermögen" behütet und so Fortdauer und Wiederaufleben erlaubt.
    Beschränkte westliche Weltsicht
    "Kann man sich", fragt Jullien, "eine Ausgangsformulierung ausdenken, die noch weniger einfallsreich und weniger abenteuerlich – weniger gewagt – wäre?" Denn anders als in der "Genesis" oder der "Theogonie" gestaltet dieser Anfang keinerlei Ursprungsszene, entwickelt keine Folgedramatik, kennt keinen Schöpfergott, kein erzählendes Ich, keinen Wahrheitszweifel, eröffnet keinerlei Transzendenz, fragt nicht nach ersten Ursachen und letzten Zwecken, lässt nicht einmal 'etwas' zum Vorschein kommen und bietet nichts zu gedanklicher Konstruktion oder Spekulation an. Nichts von alledem – und dennoch ein Satz:
    "(...) komplett, allumfassend und endgültig, in sich ruhend und nichts in der Schwebe lassend. Man dringt in den ersten Satz des 'Klassikers der Wandlungen' ein wie in eine erstaunlich klar vor Augen liegende Landschaft. Man ermisst, woran er, ohne sich dessen bewusst zu sein, 'vorbeigegangen' ist. "Beginn-Aufschwung-Profit-Geradheit", und das ist alles. Konnte man noch etwas Skizzenhafteres erträumen?"
    Und dabei ist es im Grunde geblieben. Nicht bloß im "I-Ging" selbst, auch die nachfolgenden Texte und die Generationen von Kommentatoren sind, wie Jullien ausführt, immer wieder zu dieser ersten Skizze zurückgekehrt, um sich stets erneut auf deren so einfachen wie klaren Aufriss zu konzentrieren. Auf seine Eröffnungsworte, die darlegen, wie sich sämtliches Geschehen in der Welt – in der Natur, aber ebenso zwischen den Menschen – als dieser für alle Zeiten geregelte und harmonische Ablauf von "Beginn-Aufschwung-Profit-Geradheit" vollzieht. "Ein möglicher Weg des Denkens", so Jullien, und "alles in allem vielleicht nicht fremdartiger als die anderen". Ein Weg, der vom westlichen Denken nicht nur nicht begangen, sondern von seinen eigenen Ausgangsbedingungen her nicht einmal vorgestellt werden konnte. Deshalb der 'Umweg' über China, den François Jullien auch in diesem Buch auf meisterhafte und augenöffnende Weise einschlägt. Nicht um dort eine neue Wahrheit zu finden, sondern um von diesem Anderswo den Geist für eine Denkmöglichkeit empfänglich zu machen, wie sie in China vor Jahrtausenden ergriffen und fruchtbar gemacht worden ist.
    "Es befreit uns, indem es uns zu den übernommenen Anhänglichkeiten auf Distanz gehen lässt. Sobald man in seinem Geist Abstand nimmt, lässt man Verzweigungen zum Vorschein kommen, die einem Wahlmöglichkeiten geben, die es wert sind, dass man sich auf sie einlässt."
    François Jullien: "Denkzugänge"
    Mögliche Wege des Geistes
    Aus dem Französischen von Till BardouxMatthes & Seitz Berlin, 2015, 141 S., 22,90 Euro