Heimatprojekt Saalü

Ein Dorf wird zur Varietébühne

16:21 Minuten
Schauspieler von "Saalü" singen zu Akkordeonbegleitung auf der Bühne in Offenheim.
Auf der Bühne geht es bei Saalü in Offenheim auch musikalisch zur Sache. © Stephan Morgenstern
Von Anke Petermann · 29.08.2019
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Unterhaltung für den ländlichen Raum: Seit 25 Jahren tourt das Varieté Saalü durch Rheinland-Pfalz. Eine Profi-Schauspieltruppe bringt mit den Einheimischen die Themen des Dorfes auf die Bühne - zum Beispiel im Gemeindesaal von Offenheim.
Offenheim in Rheinland-Pfalz. Ein 680-Einwohner-Dorf. In der Mitte stehen zwei Kirchen einander schräg gegenüber, eine katholische und eine evangelische. Ob ihre Glocken gegen- oder miteinander läuten, lässt sich nicht heraushören. Zwei Wirtshäuser hatte Offenheim mal, die sind inzwischen dicht, dafür gibt es zwei Friseure. Die neue Kita direkt neben der Feuerwehr bietet bald 50 Kindern Platz. Offenheim hat eine gute Altersmischung.
Ein Bus fährt in die Nachbarstadt Alzey, aber zu selten, sagen Jugendliche. Und idyllisch gelegen ist Offenheim. Umgeben von Wald und Weinreben der "rheinhessischen Schweiz". All das erfährt Martina Helffenstein, Saalü-Gründerin und -Projektleiterin, in verschiedenen Besprechungsrunden mit einem Dutzend Offenheimern.
Im Gemeindesaal werden dafür jedes Mal Tische gerückt. Zu Anfang stellt Helffenstein das Projekt vor: "Saalü gibt es seit 25 Jahren. Die Idee ist, dass man versucht, in einem Dorf einen besonderen Heimatabend zu machen, der ein bisschen anders funktioniert."
Helffenstein recherchiert monatelang. Mit vier, fünf Gesprächsterminen, aber auch in Ortschroniken. Leitfragen sind: Was hält das Dorf zusammen und am Leben? Welche Geschichten übers Dorf taugen für ein Varieté im Dorf? Die Erzählungen und Gedichte auf der Bühne sollen in eine fiktive Rahmenhandlung eingebettet werden, kündigt die Saalü-Leiterin den Offenheimern an.

Abteilungsleiter im Spaßministerium

"Wir behaupten, wir seien vom Ministerium des Inneren, für Sport, Spaß und Infrastruktur, Abteilung Dorf-TÜV. Wir sind ja hier, um Offenheim auf seine Zukunftsfähigkeit zu testen. Wir sind da, um euch zu testen."
"Wir", das sind neben Chefinspektorin Helffenstein, die hinter den Kulissen arbeitet, drei Profi-Schauspieler. Sie geben später auf der Bühne den "Abteilungsleiter im Spaßministerium", den "wissenschaftlichen Mitarbeiter der Dorf-Inspektion" und die Praktikantin, "die Flamenco für die mittlere Verwaltungsebene" studiert hat. Das klingt schräg und soll es auch sein. Gewünscht ist eine gewisse satirische Distanz zum Dorfleben.
Doch Saalü will Dörfer nicht vorführen, sondern die Besonderheiten ihres Eigenlebens herausarbeiten. Was die Dorfbewohner an Bühnentauglichem draufhaben, will Martina Helffenstein nun herausfinden. Gut für ein Heimatvarieté: Wenn Dörfler Dialekt sprechen.

Dorfgeschehen auf der Bühne

"Das kann isch gar net." Bürgermeister Peter Odermann wirkt anfangs etwas überfordert. Dabei hatte er dem Gemeinderat vorgeschlagen, bei Saalü mitzumachen. "Dass einfach mal auch kulturell was im Ort ist."
Üblicherweise managt Odermann gemeinsam mit dem Gemeinderat den Kita-Neubau, versucht ein Grundstück für ein Neubaugebiet zu finden und Ehrenamtler zur Wiederbelebung der Dorfkneipe aufzutreiben, was ein Bürgermeister in der Regel so macht. Nun aber soll er das Dorfgeschehen auf der Bühne in Geschichten verpacken. Ganz der Wahrheit entsprechen müssen die Storys nicht, sie sollen vor allem unterhaltsam sein. Das eigene Dorf mal mit anderen Augen sehen.
Odermann bleibt zunächst beim Einfachsten und babbelt probeweise Dialekt. An seinen Rückfällen ins Hochdeutsche merkt man, dass er das Fremden gegenüber nicht gewohnt ist. "Ja, mir sinn hier in Ufferum in Rheinhessen am Rande zur Pfalz."
Der holzgeschnitzte Gemeindebote von Offenheim vor einer Hauswand mit dem Ortswappen.
Der holzgeschnitzte Gemeindebote von Offenheim.© Deutschlandradio/Anke Petermann
Es fehlt so einiges im Dorfleben, was varietétauglich wäre, muss Martina Helffenstein feststellen: Zwei Gesangsvereine gab es früher in Offenheim. Der eine katholisch, der andere evangelisch. Irgendwann probten sie gemeinsam, später fusionierten sie, erzählen die Einheimischen. Dann aber kam das Aus: Kein Chor mehr in Offenheim. Was also haben die Landfrauen zu bieten? In manchen Dörfern sind sie eine sichere Bank fürs Laienspiel, weiß Martina Helffenstein.
"Aber Landfrauen, da hatte ich mir, glaube ich notiert, ihr macht vor allem …" - "Nit nur nähe, koche und backe." Nicht nur Gedöns, stellt Regina Stock klar. Stock ist Ferienhaus-Wirtin, Landfrau und gehört als erste Beigeordnete zur Spitze der Gemeindeverwaltung. Helffenstein hat verstanden.
"Beschränkt auf Erwachsenenbildung", präzisiert Stock: Von rheinhessischer Geschichte über Landschaftsökologie reicht das Kurs- und Ausflugsprogramm der Landfrauen. Bis zu den Klassikern Ernährung und Einmachen. Das alles aber findet die Saalü-Chefin nicht unterhaltsam und deshalb nicht bühnentauglich. Sie zieht den übereilten Schluss: "Ihr könnt nicht singen, ihr könnt nicht tanzen, ihr könnt nicht springen – richtig?" Blick in die Runde. "Doch? Ah, doch."

Noch nie ein Linker im Gemeinderat

Es gibt ein junges Männerballett mit einem ausgefallenen Tanzthema: Fliegen. Was daher rührt, dass der 680-Einwohner-Ort einen Weltflughafen hat. Einen, der fertig ist und trotzdem keine Montagsdemonstranten anzieht wie das Frankfurter Drehkreuz. Einen für die Modellflieger aus aller Welt.
Modellflugplatz mit Velo-Anschluss – wäre doch ein wunderbares Tanzthema fürs Offenheimer Männerballett. Nur: Am Ende kommt die Nummer auf der Bühne nicht zustande - mangels Männern. Frank Antweiler, verhinderter Tanz-Star, begründet: "Es sind ein paar im Urlaub, deshalb sind wir unterbesetzt."
Der Mann mit den krausen zum Zopf zurückgebundenen Haaren ist ein gut gelauntes Multitalent. Er tanzt im Offenheimer Männerballett, löscht bei der Freiwilligen Feuerwehr und politisiert in der Linkspartei. Die hat immerhin einen Sitz im Gemeinderat. Ein Linker im Gemeinderat – in 25 Jahren hat Martina Helffenstein so was noch nicht erlebt. "Und immerhin, wir sind mit Saalü ja in etwa 400 Dörfern gewesen, also noch nie gab es Linke."
Bühnentauglich? Als Talkthema vielleicht? Überspitzt natürlich. Darum möchte Helffenstein wissen: Was versteht die Offenheimer Linke unter Gemeinwohl? Muss Bürgermeister Odermann mit seiner Ein-Mann-Schreinerei fürchten, enteignet zu werden? Ob ernst oder ironisch, Antweiler und sein junger Genosse Aaron Krapfl winken ab. Den Bürgermeister will er nicht enteignen, versichert Krapfl dem Politiker, den er duzt.

Keine Spaßpartei

"Aber wir wollen ja trotzdem eine Enteignung anstreben. Und wenn wir das dann lustig darstellen, nimmt uns ja keiner mehr ernst. Wir wollen ja noch ernst genommen werden, muss man ja auch dazu sagen – wir sind ja keine Spaßpartei." Mit dieser Befürchtung bringt Aaron Krapfl die Vorbehalte auf den Punkt, auf die Saalü auf dem Land oft stößt.
Selbst bei den Bürgermeistern, die wie Odermann Saalü zu sich eingeladen haben, um die Dorfkultur zu beleben, liest Martina Helffenstein zuweilen hinter der Stirn: "Was will diese Frau aus Mainz da von uns? Und dann fällt jedem ein, dass Fernsehen auch schon mal da war. Und die waren auch irgendwie nett, und dann ist man am Schluss verarscht worden. Also, diese Erfahrung hat jeder schon gemacht."
Vertrauensbildung ist darum das Nonplusultra in den Vorgesprächen, doch bei den Linkspartei-Anhängern müht sich Helffenstein vergeblich. "Also, die Revolution fällt erst mal aus!"
Dafür zeichnet sich auf der vorletzten Sitzung Ersatz für den fehlenden Gesangsverein ab. Frage an Berthold alias Berti Weber: "Womit sind Sie denn Landessieger geworden?" - "Das bin ich zwar jetzt nit geworden." - Lachen - "Och, wie schad‘."

Keine Angst vor dem Alter

Schlechte Vorrecherche: Den rheinland-pfälzischen Karaoke-Landessieg hat der Offenheimer Polizist zwar verfehlt, aber Billy Joel kann er. Bei aller anfänglichen Reserviertheit tauen die meisten Akteure bis zur Aufführung auf. Auch die Offenheimer.
In der letzten Sitzung vor der Aufführung machen sie sich locker, gewinnen die leicht ironische Distanz zum Dorfgeschehen, die Saalü unterhaltsam machen kann. "Vor dem Alter muss man hier keine Angst haben", witzelt Regina Stock. Denn: "Für die Stufe danach sind wir gut eingedeckt: Ruheforst, Friedwald, Ruhewald."
Ob das üppige Angebot an "Liegeplätzen" Offenheim hilft, den Dorf-TÜV zu bestehen und das begehrte Zertifikat für Zukunftsfähigkeit zu bekommen? Nur einem Ort ist es in den 25 Jahren Saalü versagt worden, bilanziert Martina Helffenstein: "Da hatte tatsächlich der Veranstalter den Abend vergessen. Also wir standen vor der Tür, und kein Mensch war da." Das steht bei den fastnachtsgestählten Offenheimern nicht zu befürchten.

Thema Hundehaufen eskaliert

Sonntagnachmittag, noch etwa vier Stunden bis zur Aufführung des Heimatvarietés um acht. In getrennten Zweiergruppen führen die Saalü-Schauspieler Wolfgang-Müller Schlesinger und Mark Welte die letzten Vorgespräche mit den Offenheimern, die später zu ihnen auf die Bühne kommen. "Ich mach' mal im Schnelldurchgang die Themen, die ich hab'."
Müller-Schlesinger, alias Dorfinspektor Müller, legt die Eckpunkte des Bühnentalks mit Offenheims Bürgermeister Peter Odermann und Irene Frick vom Landfrauenverband Rheinhessen fest. Frick macht dem Mann vom Spaßministerium gleich im Vorgespräch klar, wo bei ihr der Spaß endet. "Also ich hab' weder Gummistiefel noch Kittelschürz' mit, ich sag's nur mal." - "Gut, kein Problem."
Müller-Schlesinger, Schauspieler und Kabarettist traut sich jetzt an eine heikle Geschichte. "Ein Thema gibt's ja hier: die Hundehaufen." - "Ja." - "Und das ist ja ein bisschen eskaliert hier." - "Nö, das ist nicht eskaliert", behauptet Bürgermeister Odermann und dehnt damit die Wahrheit ein wenig. Denn vor einem Jahr hatte es der jovial wirkende Mittfünfziger mit einem harschen Brief an die Offenheimer Hundebesitzer immerhin in die Fernseh-Nachrichten geschafft.
100 Euro Belohnung sollte jeder bekommen, der einen Hund samt Halter in flagranti ertappt, fotografiert und in der Ortsverwaltung meldet. Ein Aufruf, der den Datenschutz verletzt, Odermann musste zurückrudern, hatte aber den Ort gespalten, in Hundebesitzer und Vorgartenbeschützer. Für Kabarettisten wäre das ein gefundenes Fressen, aber Saalü ist kein Politkabarett, das die Mächtigen vorführen will.

Gespaltenes Dorf zusammengeführt

"Saalü ist ja dazu gemacht, Dörfer zu unterstützen, dörfliche Gemeinschaften zu fördern", betont Wolfgang Müller-Schlesinger. "Wir haben einmal ein gespaltenes Dorf wieder zusammengeführt, also auch solche Friedensmissionen sind möglich."
Auch Peter Odermann hat diese Chance erkannt. Als Friedensmission hat er sich einen besonderen Gag fürs Varieté ausgedacht. Doch dazu gleich. Erstmal Vorhang auf und Bühne frei für die Prüfer von Saalü: "Also, wir freuen uns auf euch, wir sind gespannt auf euer Dorf."
Windkraft, die umstrittene "Verspargelung" Rheinhessens, das in Rheinland-Pfalz liegt. Mit diesem brisanten Thema beginnt das Bühnengespräch zwischen Inspektor und Bürgermeister. Noch mehr Windräder, fragt Müller-Schlesinger.
Peter Odermann weicht aus: "Wir haben ja auch noch was anderes in Planung, ja: mit der Hundekot-Biogasanlage." – "Hundekot-Biogasanlage, ach Moment mal - hat das zu tun mit den Beschwerden wegen der Hundehaufen? Isch hab gehört, da hat‘s mal so’n Skandal um deine Person gegeben?" – "Ja, da ist das Ganze ins Rolle gekomme, mir habbe jetzt en Investor gefunde, der will 'ne Hundekot-Biogasanlage … die Gemeinde hat jetzt in Mauchenheim neberm Friedhof en Grundstück gekauft, da geht‘s jetzt voll in die Planung!"

Gut frisiert, aber hungrig

Ein doppelt genialer Schachzug des Bürgermeisters, im Zuge seiner Friedensmission in Sachen Hundekot das Nachbardorf zu erwähnen. Denn Mauchenheim ist für Offenheimer, was Wiesbaden für Mainzer: der nahe Lieblingsfeind und damit identitätsstiftend. Sandra Odermann, Schwägerin des Bürgermeisters, ist auf der Bühne zuständig fürs Offenheimer Sozialleben und stellt sich der folgenden knallharten Testeinheit von Dorf-TÜV-Mitarbeiter Mark Welte.
"Ihr habt hier zwei Friseure – und das war’s." – "Genau." – Ihr habt nicht mal einen Bäcker, keinen Metzger, aber zwei Friseure." – "Also, wir haben einen Bäcker auf Rädern, der kommt, zweimal die Woch'." – "Aber im Grunde genommen kann man sagen, ihr seid gut frisiert, aber hungrig." -"Genau, genau, so ist es." Lachen im Saal.
Den Kinderreichtum, der die millionenschwere Investition in eine neue Kita nötig macht, findet Dorfprüfer Welte auch noch bemerkenswert. Welte: "Ihr seid unglaublich kinderreich und fruchtbar – was macht ihr richtig?" – Odermann: "Hier gibt’s nix." Lachen - "Man vergnügt sich dann zu Hause." Lachen – Welte: "Herr Müller, ich weiß nicht, ob wir das so aufschreiben können, aber es wäre natürlich eine Erklärung, die so erschreckend einfach ist." – Müller: "Ich find', auch so plausibel!"

Offenheim hat definitiv eine Zukunft

Den größten Applaus fährt Landfrau Edith Arnold mit ihrer Büttenrede ein. Die Vollblutköchin mit karnevalistischem Talent tut sich "vollständisch aus‘ m Gaade ernähre, un trotzdem Erkältung abwehre. Ä lebend Beispiel, des bin isch, mit ibber 70 noch knaggisch un' frisch!"
Die Offenheimer beklatschen Arnold und mit ihr das eigene "knaggisch-frische" Dorf – dessen Zukunftsfähigkeit bekommen sie zum Abschluss von den Inspektoren zertifiziert. "Offenheim hat definitiv eine Zukunft!" – "Aber so was von!"
Drei Stunden lang dauert das Varieté-Programm, einschließlich einer Dorfhymne des Bürgermeisters, einer fiktiven Feuerwehr-Löschaktion, Karaoke, sowie weiteren Gesang- und Tanz-Einlagen auch der Inspektoren. Die Zuschauer loben vor allem die Offenheimer, die sich an diesem Abend auf die Bühne gewagt haben: "Ich fand die Edith Arnold halt super." - "Dass der Peter so locker und frei geredet hat und dass der Berti so schön gesungen hat, hat mir gut gefallen." - "Ich fand’s unterhaltsam, weil man die ganzen Leute kennt, man stellt dann so Verbindungen her, ja: lustig."
Und das Fazit von Inspektor Müller? Kabarettist Wolfgang Müller-Schlesinger freut sich, dass die anfängliche Reserviertheit gegenüber diesem fordernden Varieté-Projekt in Offenheim komplett verflogen ist. "Das Öffnen der Menschen in den Dörfern, diese menschliche Nähe, diese Herzlichkeit, die kannte ich nicht aus den Metropolen – das hat wiederum mein Herz für Saalü geöffnet, und deshalb bin ich nach 13 Jahren immer noch vollkommen begeistert dabei."
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