Dienstag, 30. April 2024

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2010er-Jahre
"Das Jahrzehnt der Verunsicherung"

Das vergangene Jahrzehnt habe in vielen Bereichen Verunsicherung gebracht, sagte der Schriftsteller Michael Köhlmeier im Dlf. Grund dafür sei unter anderem die rasante technische Entwicklung - aber auch die Tatsache, dass wir dadurch, ohne es zu wollen, Weltbürger geworden seien.

Michael Köhlmeier im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 23.12.2019
Der österreichische Autor Michael Köhlmeier.
Der österreichische Autor Michael Köhlmeier stellt auf der Leipziger Buchmesse sein Märchenbuch vor. ( picture alliance / dpa / Jan Woitas)
Jörg Münchenberg: Jede Dekade, vor allem seit dem letzten Jahrhundert, hatte ihre Überschrift: Die goldenen 20er-Jahre stehen für Jazz, für Jugendstil aber auch Straßenschlachten, die 50er-Jahre unter Kanzler Konrad Adenauer eher für Muff und Spießbürgertum, oder etwa die 70er-Jahre, zumindest in Deutschland, geprägt von Ölkrise und Linksterrorismus. Nun also geht demnächst das zweite Jahrzehnt im 21. Jahrhundert zu Ende, Anlass, einmal zurückzuschauen, und am Telefon ist der Schriftsteller Michael Köhlmeier. Herr Köhlmeier, einen schönen guten Morgen!
Michael Köhlmeier: Guten Morgen!
Münchenberg: Herr Köhlmeier, wenn Sie in Überschriften denken, was wären denn Ihre Schlüsselbegriffe für die zurückliegende Dekade?
Köhlmeier: Ich glaube, ich würde sagen, es war das Jahrzehnt der Verunsicherung. So würde ich das nennen. Ich meine, wir sind als Menschen in einer Situation wie noch nie in der Geschichte, dass so viele Menschen so viel Zugriff auf das gesamte Wissen haben – und dennoch ist ein zunehmendes Sich-nicht-Auskennen bemerkbar, glaube ich. Und das hat so eben zugenommen in dem letzten Jahrzehnt, sehr deutlich.
Münchenberg: Sie sagen Verunsicherung. Welche Entwicklungen, würden Sie sagen, haben vor allen Dingen den politischen Diskurs, die Politik auch mit am meisten geprägt?
Köhlmeier: Ich glaube, eben als Folge einer solchen Verunsicherung, natürlich Verunsicherung aufgrund dieser rasanten technologischen Entwicklung, Verunsicherung der wirtschaftlichen Entwicklung: Wir sind, ohne es zu wollen vielleicht, ohne es zu wollen und vor allem, ohne vorbereitet zu sein, zu Weltbürgern geworden und sind noch gar nicht mal richtig fertig mit der Nation. Wir haben das Gefühl, dass sogar das Projekt der Europäischen Union schon hinterherhinkt. Und aus dieser Verunsicherung heraus neigen viele halt eben dazu, eine Sicherheit zu suchen in einer Ideologie, die diese Sicherheit mit alten Schlagworten vertritt, und damit sind wir beim Rechtspopulismus.
Münchenberg: Kommen wir gleich drauf zu sprechen. Noch mal vielleicht auch zu den Ursachen der Verunsicherung: Würden Sie dazu zum Beispiel auch Klimakrise oder auch die Flüchtlingskrise zählen?
Köhlmeier: Also die Flüchtlingskrise auf alle Fälle, weil man hat ja das Gefühl, man ist verunsichert aufgrund vom Verhalten anderer Menschen. Also man kann ja irgendjemandem dort die Schuld direkt geben, kann sagen, man hat die Leute alle eingeladen oder man hat dort Versäumnisse gemacht und dort. Bei der Klimakrise ist es ein bisschen anders. So eindeutig auf jemanden zu zeigen, der Schuld ist, geht dort nicht. Da steht uns die Natur als eine vollkommen anonyme Macht gegenüber, die uns wieder – und darin sehe ich eine Chance –, wieder irgendwie zusammenschweißt, weil dort hat es keinen Sinn, sich untereinander groß zu streiten und darüber abzustimmen in einer Wahl, wer nun nicht mehr gewählt wird, weil er Schuld an dieser oder jener Entwicklung ist. Das geht dort nicht.
"Man sucht den starken Mann"
Münchenberg: Herr Köhlmeier, Sie haben den Rechtspopulismus genannt als eine auch der großen Überschriften jetzt für die zurückliegende Dekade. Sie haben vorhin gesagt, Verunsicherung ist auch ein vorherrschendes Gefühl. Aber ist das nicht auch eben der Wunsch bei vielen Menschen, dass man einfach einfache Antworten in einer immer komplizierteren Welt haben will?
Köhlmeier: Ja, eben, eben, und die einfache Antwort, dass die nicht abstrakt ist, und das am wenigsten Abstrakte und am klarsten Nachvollziehbare ist eine Person, ein Mensch. Der ist nicht mehr abstrakt. Und deshalb sehnt man sich in einer solchen Verunsicherung, wo einem alles nur abstrakt entgegenkommt in Form von Statistiken, in Form von Zahlen und so weiter, nach einem Menschen, meistens einem Mann natürlich, weil den Männern traut man diese Stärke und auch Brutalität zu, diese Bereitschaft, zu rächen, weil diejenigen, die das Gefühl haben, sie sind abgehängt worden, die brauchen jemanden, der sie irgendwie rächt, der sie wieder ästimiert, und ästimiert wird man vielleicht wirklich, indem man gerächt wird. Und deshalb sucht man sich halt den starken Mann. Und ohne vielleicht groß in die Vergangenheit zu schauen, was starke Männer da angerichtet haben im 20. Jahrhundert, das ist so, so weit her für manche Leute, sucht man sich halt einen neuen, starken Mann.
Schulterschluss der europäischen Rechten: (v.l.) Geert Wilders, Matteo Salvini, Jörg Meuthen und Marine Le Pen im Mai 2019 in Mailand. 
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Populismus ist, wenn Politiker behaupten, nur sie verträten das "wahre Volk". Politikwissenschaftler finden ökonomische, aber auch subjektive Gründe für ihren Erfolg.
"Bei Kurz waren das pseudoreligiöse Dinge"
Münchenberg: Würden Sie dazu auch Sebastian Kurz zählen?
Köhlmeier: Na ja, bei ihm ist es ja schon wieder sehr eigenartig, der starke Mann, der die Rache führt, der diese Brutalität hat, das ist er sicher nicht. Das war unser Strache, der inzwischen sich durch seine eigene Gier selber demontiert hat. Bei Sebastian Kurz spielen schon fast so was wie pseudoreligiöse Dinge mit hinein, dass er … Wenn man das schon mal erlebt hat, wenn er aufgetreten ist, ob das immer noch so ist, das kann ich nicht beurteilen, aber damals während es Wahlkampfes, dann hat das schon nichts mehr mit Politik zu tun gehabt, sondern das war schon Pseudoreligion.
Münchenberg: Treibt Sie das um, wenn Sie sagen, es gibt so eine Art Sehnsucht nach starken Männern vor allen Dingen, also sehen Sie da eine große Gefahr vielleicht auch für die westlichen Demokratien?
Köhlmeier: Ich schwanke da hin und her. Manchmal bin ich ganz deprimiert und denke mir, ja, das ist etwas, was dieses wunderbare Projekt Europäische Union zersetzt von innen heraus und damit ja auch die Demokratie zersetzt, auf der anderen Seite glaube ich dann immer wieder, dass das so wie Fieberschübe sind, die eigentlich ein stärkeres Immunsystem aufbauen, und denke mir, dass inzwischen – nicht in jedem Land der Union, um Gottes Willen, das weiß man ja, wenn man nur an Ungarn denkt, aber in den Kernländern der Union – die Demokratie schon so stabil, so stark und so verfestigt und auch alternativlos für die Menschen geworden ist, da glaube ich nicht mehr, dass das gekippt werden kann so ohne Weiteres. Aber wie gesagt, in optimistischen Augenblicken denke ich das so.
"Die europäische Sozialdemokratie ist ein Sonderfall"
Münchenberg: Die etablierten Parteien tun sich ja trotzdem schwer jetzt, haben eigentlich nicht so richtig eine Antwort auf die Populisten gefunden oder emittieren sie sogar, vielleicht wie Boris Johnson in Großbritannien. Wie ist da Ihre Einschätzung? Werden sie mit ähnlichen Konzepten überleben können oder wird ihre Bedeutung dann letztlich doch weiter abnehmen, man schaue ja nur auf die europäische Sozialdemokratie?
Köhlmeier: Ja, die europäische Sozialdemokratie ist ein Sonderfall, der einem wirklich Kopfzerbrechen macht, wo man auch viel darüber nachdenkt, warum das so geworden ist. Meine Theorie ist da, dass die Sozialdemokratie ihre klassischen, großen Themen, ihre klassischen, großen Versprechen, wenn man jetzt bis Ferdinand Lassalle zurückdenkt, dass die eigentlich erfüllt sind, immer noch nicht ins Einzelne genau hinein, aber im Großen und Ganzen sind sie erfüllt. Die sind nicht nur angekommen in der Mitte, sondern das ist Konsens, da will niemand mehr zurück. Niemand steht auf und sagt, wir müssen die Rechte der Frauen beschneiden und so weiter, und so fort. Also ist die Sozialdemokratie in ihren Zielen, also dass sie starke, mitreißende Ziele hat, irgendwie mit verunsichert und vielleicht am meisten verunsichert von allen anderen Parteien.
Münchenberg: Also hat sich faktisch dann selbst abgeschafft.
Köhlmeier: Ja, im Guten, im Guten, das kann ja auch sein, im Guten, dass man sagt, jetzt habe ich es geschafft, jetzt ist es vorbei und jetzt muss man sich entweder vollkommen neu aufstellen, aber dort, auf der Seite, wo man sich neu aufstellen könnte als Sozialdemokraten, dort stehen halt schon die Grünen.
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SPD vor Parteitag - Führungsfrage geklärt, GroKo-Frage weiter offen
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"Die grünen Grundthemen sind urkonservativ"
Münchenberg: Wenn wir noch mal auf die rechte Seite gucken, Sie haben ja gesagt eben, auch Aufstieg der Rechtspopulisten jetzt in dieser zurückliegenden Dekade – haben denn die konservativen Parteien da eine überzeugende Antwort trotzdem finden können?
Köhlmeier: Das fängt ja dort schon an, wo man heutzutage schon gar nicht mehr ganz genau weiß, was man als konservativ bezeichnen soll oder was nicht. Also die grünen Grundthemen, also Schutz der Natur und so weiter, Schutz des Einzelnen, des überschaubaren Bereiches, das sind natürlich urkonservative Themen, dennoch würde niemand die Grünen heute als die typische konservative Partei ansehen. Wiederum auf der anderen Seite, dieser wirtschaftliche Neoliberalismus, wie er zum Beispiel also jetzt nicht nur in Deutschland, auch in Österreich gerade von den sogenannten konservativen Parteien, also in Österreich von der ÖVP, in Deutschland von der CDU, betrieben wird, der ist ja praktisch schon anti-konservativ. Also das Problem beginnt schon dort, die Verunsicherung halt eben auch, von der ich gesprochen habe, wo wir heute nicht mehr sagen können, das ist progressiv, dieser Begriff wird ja kaum mehr verwendet, und jenes ist konservativ, sondern das geht so quer durch, und die linke Hand ist konservativ, die rechte Hand ist schon nicht mehr konservativ, und die rechte Gehirnhälfte ist konservativ, die andere schon nicht. Das kann man gar nicht mehr festlegen.
Münchenberg: Was es natürlich für die Wähler auch nicht unbedingt einfacher macht.
Köhlmeier: Oh nein, das macht es nicht einfacher, überhaupt nicht. Leute, die sich bisher als konservativ verstanden haben, sind sehr verunsichert.
"Als es sogar sexy war, verunsichert zu sein"
Münchenberg: Sie haben gesagt, es gab jetzt in dieser Dekade vor allen Dingen also eine große Überschrift, Aufstieg der Rechtspopulisten. Auf der anderen Seite gibt es ja schon auch so was wie Gegenbewegungen, nehmen wir mal die Klimaaktivisten, Fridays for Future. Die setzen sich ja vollkommen ab eigentlich vom Populismus.
Köhlmeier: Und das ist das Überraschende, Überraschungen können positiv und negativ sein, oftmals sind sie sehr positiv, und gerade das vergangene Jahr hat einige sehr positive Überraschungen mitgebracht. Also wenn ich mir nur denke, vor einem Jahr, wenn Sie mich gefragt hätten über die Situation in Österreich, wäre nie und nimmer jemand auf die Idee gekommen, vorauszusagen, was für ein Erdbeben da geschieht durch die Sache mit dem Ibiza-Video und in der Folge mit der Aufdeckung dieser unsäglichen Gier und dieser durch und durchen Korruptheit dieser Partei, das hätte man nicht gewusst, genauso wie man vor anderthalb oder vor zwei Jahren nicht geahnt hätte, dass eine schüchtern wirkende 15-, 16-Jährige, ein Mädchen, eine solche weitweite Bewegung auslösen kann. Ich sehe es bei jungen Leuten, die ich hier kenne, also bei deren Kindern, wo wir sagen, die sind so mitgerissen, auch politisch mitgerissen, das erinnert mich wiederum an die 60er-, 70er-Jahre, als ich jung gewesen war, als es sogar sexy war, verunsichert zu sein, also etwas vor sich zu haben, das nicht planbar ist. Und das sehe ich jetzt wieder, und das ist sehr, sehr positiv.
Strache sitzt im T-Shirt auf einem Sofa in einem Wohnzimmer, dahinter sitzt eine Frau mit verpixeltem Gesicht. Neben ihr steht Gudenus. der spricht und gestikuliert.
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Vor vier Monaten wurde Sebastian Kurz als Kanzler Österreichs abgewählt. Bei den jetzt anstehenden Nationalratswahlen führt seine ÖVP die Umfragen an, sie wird aber einen Koalitionspartner brauchen.
"Bei der Flüchtlingskrise bin ich eher pessimistisch"
Münchenberg: Schauen wir noch mal auf die politische Ebene, wie ist denn Ihr Eindruck: Gibt es Lernfortschritte sozusagen auch in diesem Jahrzehnt, mit bestimmten Problemen umzugehen, zum Beispiel Klimawandel, Flüchtlingskrise, oder sind Sie da eher pessimistisch?
Köhlmeier: Bei der Flüchtlingskrise bin ich da eher ein bisschen pessimistisch, beim Klimawandel nicht. Ich glaube, das wird zu einem unbestrittenen Thema aller Parteien werden müssen, außer, die Parteien geben sich selber auf und sagen, das interessiert mich nicht. Ich glaube, es wird sich noch zeigen, dass vielleicht in zwei Jahren oder so was gerade die Rechtspopulisten von sich behaupten werden, sie haben den Kampf gegen die Klimakrise eigentlich erfunden. Das ist durchaus möglich. Was die Flüchtlingskrise betrifft, da bin ich nicht ganz so pessimistisch, und warum nicht? Und zwar deswegen, weil Leute, Menschen, die sich nicht ästimiert fühlen, die sich an den Rand gedrängt fühlen, … Das ist ein so unerträgliches Gefühl, das kann man am besten ableiten und dem kann man am besten begegnen, indem man jemanden sucht, der noch unter einem steht, dass man sich sagt, ich bin nicht der Letzte, ich bin nicht der Unterste, ich bin nicht der ganz Abgehängte, da gibt es noch andere. Und auf die anderen zu zeigen, ist meine Aufgabe, weil die über mir, die zeigen nur auf mich, ich muss auch noch jemanden haben, auf den ich zeigen kann. Und da bieten sich die Flüchtlinge, die wirklich gar nichts haben, die bieten sich dort an.
Münchenberg: Herr Köhlmeier, noch eine Frage. Im Rückblick haben ja viele den Eindruck, früher war alles besser, und wenn man nach vorne schaut, dann sagt man eher, es wird immer alles schlimmer. Sehen Sie das auch so?
Köhlmeier: Nein, das sehe ich nicht so, das sehe ich nicht so. Ich kann mich erinnern, als ich jung war, da hieß es wirklich nur von irgendwelchen sehr Verbohrten, die gesagt haben, früher war alles besser, da war natürlich der Krieg noch in guter Erinnerung. Aber in Wirklichkeit sprechen die Tatsachen und die Statistiken weltweit ja doch dafür, dass alles im Großen und Ganzen irgendwo besser geworden ist im Gesamten. Also sagen wir mal so: Die Summe des gesamten Glücks ist ein bisschen größer geworden, so hat man das Gefühl. Und diesbezüglich, ich meine, was nützt mir ein Pessimismus? Meine Mundwinkel würden sich nach unten ziehen und der Magen würde mir weh tun. Also entscheide ich mich für einen Optimismus und glaube natürlich, dass langsam, langsam, in manchen Punkten nicht, in manchen Punkten schon, die Sache immer besser wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.