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Per Mertesacker
Ein stückweit Realität

Vor zwei Monaten hat ein Interview im 'Spiegel' die Fußballwelt mit einem Tabuthema konfrontiert: Weltmeister Per Mertesacker sprach offen über Angst und den Umgang mit Druck. Nie zuvor hatte sich ein deutscher Fußballprofi dazu geäußert. Die Branche zollt Respekt, tut sich aber mit dem Thema schwer.

Von Andrea Schültke | 10.05.2018
    Das Bild zeigt Per Mertesacker im Trikot des Vereins FC Arsenal im September 2017.
    Das Bild zeigt Per Mertesacker im Trikot des Vereins FC Arsenal im September 2017. (imago / Kieran Galvin)
    Ende Juni 2014 in Brasilien, WM-Achtelfinale gegen Algerien. Das deutsche Team gewinnt mit 2:1 – dennoch muss Verteidiger Per Mertesacker kritische Fragen beantworten, zur Spielweise seiner Mannschaft. Seine wütende Antwort im ZDF sorgt damals für Aufsehen:
    "Glauben Sie unter den letzten 16 ist irgendwie ne Karnevalstruppe oder was? Die haben das hier uns richtig schwer gemacht über 120 Minuten und wir haben gekämpft bis zum Ende. Ich leg mich jetzt erst mal drei Tage in die Eistonne und dann analysieren wir das Spiel und dann sehen wir weiter".
    Ein Wutausbruch, der heute in einem anderen Licht erscheint. Seit Mertesacker im Spiegel die Qualen beschrieb, die er vor jedem Anpfiff erleidet: "Mir dreht sich der Magen um als müsse ich mich übergeben. Ich muss dann einmal so heftig würgen, bis mir die Augen tränen."
    Angst vor dem Fehler
    Kurz vor seinem Karriereende, schilderte der Fußball-Weltmeister, der Druck habe ihn aufgefressen. Der 34jährige berichtete dem Spiegel über seine Gefühle etwa während der WM-Spiele. Sprach von der "Angst einen Fehler zu machen, aus dem dann ein Tor entsteht".
    Mertesacker habe Verletzungen nicht auskurieren können, sondern gespielt, bis es gar nicht mehr ging. Dann habe er Verletzungspausen als Erleichterung gesehen: "Ich behaupte sogar, dass viele wiederkehrende Verletzungen psychisch bedingt sind. Dass der Körper der Seele damit zur Ruhe verhilft. Aber das hinterfragt niemand."
    Ein Fußball-Weltmeister, der die Schattenseiten des vermeintlichen Traumberufs Fußballprofi drastisch und eindrücklich zur Sprache bringt – die Branche zollt Respekt: "Ich muss den Hut ziehen vor Per Mertesacker, weil es nicht einfach ist, heutzutage so ein Interview zu führen", bekundete Schalke-Trainer Domenico Tedesco. Und fuhr gleich fort, er wolle den Druck von seinen Spielern fernhalten, indem er weniger über Ergebnisse oder die Tabelle rede als über die Aufgaben.
    Domenico Tedesco wird neuer Trainer bei Schalke 04. 
    Domenico Tedesco (Thomas Eisenhuth/dpa)
    Auch das zeigt: Druck und der Umgang damit ist im Fußballgeschäft offenbar schon ein Thema, aber eben nicht öffentlich. Schalke-Manager Christian Heidel wunderte sich eher, "dass es ein Interview wie es Per Mertesacker gegeben hat, dass das so spät kommt. Ich finde es interessant, dass ein Spieler sich öffnet."
    Die Öffnung kam wenige Wochen bevor Per Mertesacker seine Karriere noch in diesem Monat beendet. Erst da fühlte er sich wohl in der Lage, zu berichten, was sein Job ihm abverlangt hat. Etwa von dem Gefühl, das ihn einmal drei Tage lang im Bett hielt: "Die Erschöpfung, diese totale Erschöpfung".
    Aussagen wie diese haben Christian Streich, Trainer des SC Freiburg, nicht überrascht: "Das, was der Per Mertesacker gesagt hat, ist natürlich ein stückweit die Realität, da brauchen wir nicht drüber reden – für uns alle", bezieht Streich auch sich und seine Berufskollegen mit ein.
    Mentale Gesundheit mehr ins Bewusstsein rücken
    Neun Jahre nach dem Tod des Torhüters Robert Enke als Folge einer Depression, scheint sich die Branche schwer zu tun mit dem Bereitstellen und Annehmen psychologischer Hilfe.
    Mertesackers Nationalmannschaftskollege Thomas Müller beschreibt ein Einzelkämpfertum – auch wenn es um die Bewältigung von Problemen geht, die möglicherweise alle betreffen: "Es ist wichtig, dass man auch in Momenten, wo man vielleicht mal nicht damit klarkommt, dass man sich ein Umfeld aufbaut, um das Ganze zu bewältigen, und der, der das nicht hat, sollte sich bemühen, dann jemanden zu finden, der bei der Druckbewältigung hilft."
    Der designierte DFB-Präsident Reinhard Grindel
    Der designierte DFB-Präsident Reinhard Grindel (dpa / picture-alliance / Rainer Jensen)
    Für DFB-Präsident Reinhard Grindel leistet die Robert-Enke-Stiftung gute Arbeit als Anlaufstelle für betroffene Leistungssportler auch außerhalb des Fußballs. Nach dem Freitod von Robert Enke will die Stiftung das Thema mentale Gesundheit allgemein mehr ins Bewusstsein rücken.
    Gerade hier sei Per Mertesacker mit seinem Interview ein Vorbild, meint Reinhard Grindel: "Ich finde, es ist eine Stärke, Schwäche zuzugeben und ich bin Per Mertesacker dankbar, dass er mit dem Interview gerade jungen Spielern vielleicht ein Stück Kraft gegeben hat, sich zu öffnen"
    Es scheint als sei Per Mertesacker für seinen neuen Job genau der Richtige: Er wird Leiter der Nachwuchsakademie beim FC Arsenal. Bei seiner neuen Aufgabe will er "das System angreifen. Wir sind für die Jungs verantwortlich, die zu uns kommen".