Roman

Die Feier des Zufalls

Von Peter Urban-Halle · 25.10.2014
"Nackt" ist der vierte Roman des Belgiers Jean-Philippe Toussaint über die verführerische und rätselhafte Marie, von der der Ich-Erzähler nicht loskommt - weil er nicht von ihr loskommen will.
"Nackt" heißt dieser vierte Roman, mit der die Marie-Tetralogie abgeschlossen ist, und nackt ist man oft bei Toussaint, dramatisch nackt (wie in dem Tokioter Nachtausflug in "Sich lieben"), komisch nackt (wie der Erzähler vor einem Berliner Kulturmanager in "Fernsehen") oder zwangsläufig nackt (wie bei der Liebe in "Die Wahrheit über Marie").
Im vorliegenden Buch ist das Nacktsein Ausdruck völliger Harmonie mit der Natur. Gern bewegt sich Marie, wie Gott sie schuf, durch ihren Garten auf Elba oder im angrenzenden Meer, bewundert von Schmetterlingen und aufgeregten Fischlein und natürlich vom Ich-Erzähler; die Nacktheit ist "der Beweis ihrer wesensgleichen Übereinstimmung mit der Welt". Dabei hätte sie das Entkleiden gar nicht nötig, da sie diese Selbstverständlichkeit und Harmonie auch angezogen besitzt, sie scheint "immer wie nackt auf der Oberfläche der Welt entlang zu spazieren".
Schwereloser, dem Körper naher Text
Aber das Nacktsein bedeutet auch Schutzlosigkeit, was hier in einer etwas überraschenden, ziemlich drastischen Anfangsszene demonstriert wird. Marie, die Modeschöpferin, die nicht nur souverän, sondern auch leichtfertig sein kann, schneidert einem Mannequin ein Kleid im wahrsten Sinne auf den Leib: Nur mit Honig überzogen stelzt das junge Mädchen über den Laufsteg, verfolgt von einem Bienenschwarm, der gnadenlos über es herfällt, als es versehentlich umknickt.
In diesem abschließenden Band seines Marie-Zyklus äußert sich Toussaint ungewöhnlich deutlich zu poetologischen Fragen. Wie eben dieses Honigkleid will Toussaint seine Texte: so schwerelos und dem Körper möglichst nah und so durchgearbeitet und schließlich doch offen – manchmal gefährlich offen – für alle Zufälle, Fügungen und Eigenarten des Lebens. Das Unvorhergesehene wird zum eigentlich Lebenswerten unseres Daseins.
Ich-Erzähler als Gott ohne Allmacht
Das Unvorhergesehene beherrscht beide Hauptteile von "Nackt". Im ersten werden wir noch einmal nach Japan versetzt und erfahren, wie Marie dort ihren Liebhaber Jean-Christophe de G. auf der Vernissage ihrer Ausstellung kennenlernt. Auch das geht wie immer in Toussaints Zufallsuniversum nicht ohne kleine burleske Umwege vor sich: Dieser kommende Liebhaber erobert nämlich zunächst eine falsche (aber auch recht reizvolle) Marie. Der Ich-Erzähler beobachtet alles von ganz oben durch eine Lichtkuppel, ohne eingreifen zu können: Er ist ein Gott ohne Allmacht (auch das ein Bild für Toussaints Verfasserposition).
Im zweiten Teil geht es wieder nach Elba, diesmal nur für eine, aber entscheidende Nacht. Kurz vorher haben sie sich in einem Pariser Café getroffen, Marie hat ihm etwas zu sagen: Der Verwalter des Anwesens, das Marie durch den Tod ihres Vaters geerbt hat, sei gestorben. Sie fahren beide zum Begräbnis. Es gibt aber noch eine wichtigere Nachricht, die der Ich-Erzähler freilich erst auf Elba erfährt. Auch diese hat mit dem eigentlich Lebenswerten unseres Daseins zu tun: der unvorhergesehenen Fügung.
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