So lesen wir auf den körnigen, zwischen Gelb, Ocker und Grau changierenden Faltungen des Umschlagbildes die Wörter "Haut und Serpentine". Das sind zwei Wörter, die weit auseinander zu liegen scheinen. Der in Schlangenlinien verlaufende Weg und die äußere Schicht des Körpers. Doch was in den Gedichten Jürgen Nendzas zunächst auf getrennte Wortfelder führt, in völlig disparate Bildlichkeiten, das öffnet sich immer wieder zu überraschenden Korrespondenzen. So verweist die Serpentine auf die Schlange - lateinisch "serpens" -, die sich diversen Häutungen unterzieht. Es sind solche kleinen Bedeutungsverschiebungen und überraschenden Bildverknüpfungen, mit denen Jürgen Nendza unsere Wahrnehmungsroutinen aushebelt.
Seine Gedichte beginnen mit der minuziösen Beobachtung von Naturdetails oder alltäglichen Gegenständen, bis ein Geräusch, ein Geruch oder ein Bewusstseinsreiz die Dinge auf eine andere Bahn lenkt und in eine beunruhigende Schwebe bringt. So kann es geschehen, dass die zuvor so sinnfällig geordnete Welt aus den Fugen gerät und umkippt in ein Vexierbild. Das kann ganz unspektakulär beginnen: etwa mit der Wahrnehmung von Blütenstaub auf einer Fensterbank, einem blendenden Mittagslicht, oder der Beobachtung einer Ampel mit Blindenschaltung. Zunächst sind da nur die Taktzeichen der Ampel, die wahrgenommen werden, dann öffnet sich der Raum des Bewusstseins und punktuelle Beobachtung, Erinnerung und Reflexion beginnen sich zu überlagern. Der Augenblick des Überquerens der Straße setzt Augenblicke geschichtlicher Reflexion frei. Am Ende führt die poetische Bewegung ins Bedrohliche, denn in einem weiten Bogen der Assoziation gelangen wir von der Blindenschaltung zu "Fangschaltung" und "Elektroschock". Jürgen Nendza liest:
VOR DEM EINKAUF das Überqueren der Straße : animal
rational, gestreift, geschaltet, Zebra und Ampel, eine kurze Dauer
im Blindentakt. Ein vorübergehender Anruf, drahtlos
verbunden mit einer Wunde
oder Nachricht vielleicht, die spricht
von einem Moratorium, dass Halbmonde plötzlich
aufleuchten, frisch poliert:
auf den Zeigefingern der Konferenzen
und über jede Entfernung erhaben. Das Umschalen
im Blindentakt: Zwischen Fangschaltung,
Elektroschock schiebt sich ein Schrei
an dir vorbei, Reflexe
greifen ins Leere.
Jürgen Nendza las. Seine Texte offenbaren einen Prozess der Selbstvergewisserung, tasten sich an den Dingen entlang, ein Weg ins Ungewisse. Es ist ein Weg, der oft in eine geschichtlich versehrte Topographie führt. Etwa im Zyklus "Hinterland", der einen tödlichen Grenzzaun des Ersten Weltkrieges aufruft. In einem anderen Gedicht weicht die Vertrautheit eines Hotelzimmers am Abend, die Konturen der Dinge lösen sich auf, weil beunruhigende Nachrichten das lyrische Subjekt verstören:
HOTELSEIFE, Flacons. Die Mauern sind noch
warm, Zimmer an Zimmer verläuft sich die Gleichzeitigkeit
von Biographien. Nichts will passen in das Gefüge
des Wartens, und wie es begann, wer kann das erzählen.
Mit ein paar Versen schabst du geschlossene Haut,
die Landschaft dahinter hat dich vergessen. Ein Flieger,
eine Wirbelsäule aus Kondens. Darunter lösen sich auf
der Takt der Busse, der Glocken, der Fragen
nach dem Konferenzzimmer. Viel zu früh
beginnt die Soirée. Kann sein, die Zeit hat sich verschoben,
der Raum, und dein Blick auf die Uhr bleibt
stehen beim elften September.
Jürgen Nendzas Gedichte lesen sich wie Exerzitien der Wahrnehmung. Im weiteren weitet sich der Blick immer mehr ins Geschichtliche. Im Fall des gehörten Gedichts läuft Nendzas geschichtsarchäologische Expedition auf den katastrophischen Schock des denkwürdigen 11. September 2001 zu. Am intensivsten gelingt die poetische Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit jedoch in den subtilen lyrischen Miniaturen des Bandes. In einer Streichholzschachtel wird hier die Welt geborgen – die Zeichen dieser Welt sind allerdings nicht mehr lesbar. Was bleibt, sind akustische Reize.
Welthölzer
Es wird nicht schwarz vor Augen. Die Akustik
aus dem Nachbarhaus: ein Würfelspiel, ein Spieler
ohne Worte. Wie der Käfer in der Weltholz-
Schachtel. Ein Foto davon gibt es nicht. Nur
den geheimen Sender, der weiterschabt in deinem Ohr.
Jürgen Nendza
Haut und Serpentine
Landpresse Verlag, 64 S., EUR 17,-
Seine Gedichte beginnen mit der minuziösen Beobachtung von Naturdetails oder alltäglichen Gegenständen, bis ein Geräusch, ein Geruch oder ein Bewusstseinsreiz die Dinge auf eine andere Bahn lenkt und in eine beunruhigende Schwebe bringt. So kann es geschehen, dass die zuvor so sinnfällig geordnete Welt aus den Fugen gerät und umkippt in ein Vexierbild. Das kann ganz unspektakulär beginnen: etwa mit der Wahrnehmung von Blütenstaub auf einer Fensterbank, einem blendenden Mittagslicht, oder der Beobachtung einer Ampel mit Blindenschaltung. Zunächst sind da nur die Taktzeichen der Ampel, die wahrgenommen werden, dann öffnet sich der Raum des Bewusstseins und punktuelle Beobachtung, Erinnerung und Reflexion beginnen sich zu überlagern. Der Augenblick des Überquerens der Straße setzt Augenblicke geschichtlicher Reflexion frei. Am Ende führt die poetische Bewegung ins Bedrohliche, denn in einem weiten Bogen der Assoziation gelangen wir von der Blindenschaltung zu "Fangschaltung" und "Elektroschock". Jürgen Nendza liest:
VOR DEM EINKAUF das Überqueren der Straße : animal
rational, gestreift, geschaltet, Zebra und Ampel, eine kurze Dauer
im Blindentakt. Ein vorübergehender Anruf, drahtlos
verbunden mit einer Wunde
oder Nachricht vielleicht, die spricht
von einem Moratorium, dass Halbmonde plötzlich
aufleuchten, frisch poliert:
auf den Zeigefingern der Konferenzen
und über jede Entfernung erhaben. Das Umschalen
im Blindentakt: Zwischen Fangschaltung,
Elektroschock schiebt sich ein Schrei
an dir vorbei, Reflexe
greifen ins Leere.
Jürgen Nendza las. Seine Texte offenbaren einen Prozess der Selbstvergewisserung, tasten sich an den Dingen entlang, ein Weg ins Ungewisse. Es ist ein Weg, der oft in eine geschichtlich versehrte Topographie führt. Etwa im Zyklus "Hinterland", der einen tödlichen Grenzzaun des Ersten Weltkrieges aufruft. In einem anderen Gedicht weicht die Vertrautheit eines Hotelzimmers am Abend, die Konturen der Dinge lösen sich auf, weil beunruhigende Nachrichten das lyrische Subjekt verstören:
HOTELSEIFE, Flacons. Die Mauern sind noch
warm, Zimmer an Zimmer verläuft sich die Gleichzeitigkeit
von Biographien. Nichts will passen in das Gefüge
des Wartens, und wie es begann, wer kann das erzählen.
Mit ein paar Versen schabst du geschlossene Haut,
die Landschaft dahinter hat dich vergessen. Ein Flieger,
eine Wirbelsäule aus Kondens. Darunter lösen sich auf
der Takt der Busse, der Glocken, der Fragen
nach dem Konferenzzimmer. Viel zu früh
beginnt die Soirée. Kann sein, die Zeit hat sich verschoben,
der Raum, und dein Blick auf die Uhr bleibt
stehen beim elften September.
Jürgen Nendzas Gedichte lesen sich wie Exerzitien der Wahrnehmung. Im weiteren weitet sich der Blick immer mehr ins Geschichtliche. Im Fall des gehörten Gedichts läuft Nendzas geschichtsarchäologische Expedition auf den katastrophischen Schock des denkwürdigen 11. September 2001 zu. Am intensivsten gelingt die poetische Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit jedoch in den subtilen lyrischen Miniaturen des Bandes. In einer Streichholzschachtel wird hier die Welt geborgen – die Zeichen dieser Welt sind allerdings nicht mehr lesbar. Was bleibt, sind akustische Reize.
Welthölzer
Es wird nicht schwarz vor Augen. Die Akustik
aus dem Nachbarhaus: ein Würfelspiel, ein Spieler
ohne Worte. Wie der Käfer in der Weltholz-
Schachtel. Ein Foto davon gibt es nicht. Nur
den geheimen Sender, der weiterschabt in deinem Ohr.
Jürgen Nendza
Haut und Serpentine
Landpresse Verlag, 64 S., EUR 17,-