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Radiolexikon Gesundheit: Wundstarrkrampf

Tetanus, der Wundstarrkrampf. Eine Infektionskrankheit, die sehr ernst verläuft - wie ihr Name schon andeutet. Aber zum Glück treten nur rund 10 bis 20 Fälle jährlich in Deutschland auf. Da muss man sich wohl keine Sorgen machen - so denken wohl die meisten. So hat auch eine alte Dame gedacht, die für ihre Sorglosigkeit einen hohen Preis zahlen musste.

Von Thomas Liesen | 19.12.2006
    Anna Winkel ist eine 83 jährige alte Dame, die immer noch viel Zeit damit verbringt, ihren Garten zu pflegen. Es ist der 21. Juni. Und an diesem Tag möchte sie den Vorgarten vom Unkraut befreien.

    Während sie gegen das Grün kämpft, achtet sie kurz nicht auf ihren Tritt. Ein Fuß verfängt sich in einer Wurzel. Sie verliert das Gleichgewicht, stürzt in ihre Hortensien.

    Es scheint zunächst gar nicht so schlimm. Sie ist für ihr Alter noch gut auf den Beinen, kann sich daher sofort aufrappeln. Doch der linke Unterschenkel schmerzt. Erst jetzt bemerkt sie eine große Schürfwunde, offenbar verursacht durch die kleinen Eisenstangen, mit denen sie die Hortensien gesichert hat. Zum Glück ist ihre Tochter im Haus. Sie verbindet sofort die Wunde und schlägt vor, einen Arzt aufzusuchen. Doch Anna Winkel lehnt das ab.

    Zwei Wochen später: Anna Winkel klagt über Halsschmerzen. Ihr Hausarzt vermutet eine Erkältung und verschreibt Antibiotika. Doch kaum 24 Stunden später ändert sich ihr Zustand dramatisch. Sie kann kaum noch schlucken. Ihr ganzes Gesicht ist wie gelähmt. Am ganzen Körper scheinen sich die Muskeln zusammen zu ziehen.

    " Als ich sie dann mir gesehen habe, sie ist dann auch direkt auf die Intensivstation gegangen, hat man das klassische Bild von einer Tetanus-Infektion gesehen. Die Patientin hatte eine Kiefersperre, eine schwere Schluckstörung, eine sehr angespannte Gesichtsmuskulatur, verzerrte Gesichtszüge und eine ganz ausgeprägte Muskelsteifigkeit."

    Der Neurologe Dr. Wolf-Dirk Niesen von der Uniklinik Freiburg hatte in seinem ganzen Leben noch keine Patientin mit solchen Symptomen gesehen. Aber sie waren so eindeutig - wie in jedem Lehrbuch beschrieben - dass er kaum Zweifel hatte: Anna Winkel musste sich mit dem Bakterium Clostridium tetani infiziert haben. Sofort begann der Arzt mit der Notfalltherapie. Die Patientin bekam eine Art Gegengift gespritzt. Und Medikamente, die die Muskeln wieder lockern sollen. Aber dennoch war dem Arzt klar: Anna Winkel kämpfte um ihr Leben.

    Clostridium tetani ist ein Bakterium, dass praktisch überall auf der Welt vorkommt. Es findet sich vor allem im Boden, aber auch in Pferde- oder Kuhdung. Wenn sich seine Lebensbedingungen verschlechtern, bildet es sogenannte Sporen.

    " Diese Sporen sind sehr widerstandsfähig, sehr dauerhaft und werden dann gegebenenfalls bei einer kleineren Verletzung, heute sehen wir zunehmend auch bei einer Bagatellverletzung, aufgenommen und gelangen in den Körper. Und aus den Sporen von Clostridium tetani bildet sich dann das eigentliche vegetative Bakterium, welches sich vermehrt und dann auch Toxin bildet."

    Prof. Christian Bogdan ist Arzt und Mikrobiologe am Uniklinikum Freiburg. Zusammen mit seinem Kollegen Wolf-Dirk Niesen hat er die Tetanus-Patientin Anna Winkel betreut. Sie war eine von drei akuten Tetanus-Fällen, die in den letzten Jahren in die Freiburger Klinik eingeliefert wurden. Immer war es nur eine kleine Verletzung, in der Regel zugezogen bei der Gartenarbeit, die am Beginn der Infektion stand. In die Wunde sind dabei Sporen des Tetanus-Bakteriums gelangt. Dabei sind diese Sporen eigentlich gar nicht so leicht zum Leben zu erwecken. Denn sie gedeihen nur unter Sauerstoffabschluss. An eine oberflächliche Wunde gelangt aber Luft und damit Sauerstoff - sollte man meinen. Christian Bogdan:

    " Lange Zeit waren die klassischen Beispiele schon die, das das Bakterium in tiefe Verletzungen eindringt, zum Beispiel Pfählungsverletzungen, zum Beispiel Motorradfahrer und Jägerzaun. Aber es reicht offensichtlich aus, dass unter einer Kruste eine Schürfwunde bereits Verhältnisse vorliegen, wo totes Gewebe ist, wo dieses Bakterium tatsächlich leben und sich vermehren kann und Toxin produziert."

    Wie jedes Lebewesen scheidet auch Clostridium tetani Stoffwechselprodukte aus. Aber vor allem eine dieser Substanzen hat es in sich. Es ist das sogenannte Tetanospasmin, ein hochpotentes und tückisches Nervengift. Zunächst bindet es an Nervenenden. Und dann fängt es an zu wandern. Mit einer Geschwindigkeit von 5 Millimetern pro Stunde bewegt es sich entlang der Nervenstränge, bis es schließlich am Gehirn angekommen ist. Mit schlimmen Folgen für die Patienten.

    Anna Winkel liegt in einem völlig abgedunkelten Raum. Sie wird über einen Schlauch beatmet. Die Ärzte haben ihr starke Beruhigungsmittel injiziert, die sie in einen Dämmerzustand versetzen. Die Therapie hatte mit der Injektion eines Gegengifts begonnen - Antikörper, die an das Nervengift des Bakteriums binden und es dadurch unschädlich machen sollen. Doch es ist fast zu spät: Das Tetanus-Gift hat sich bei Anna Winkel bereits in größeren Mengen an Nerven und Hirnzellen gebunden. Und dann ist das Gegengift praktisch nutzlos. Immerhin hat ein Antibiotikum dafür gesorgt, dass alle noch lebenden Tetanusbakterien abgetötet wurden. So gelangt wenigstens kein zusätzliches Gift mehr in den Körper.

    Das Bakteriengift bewirkt ein Dauerfeuer im motorischen Nervensystem von Anna Winkel. Alles hat sich verkrampft, selbst ihre Rachenmuskeln, so dass sie ohne Schlauch im Hals als Atemhilfe ersticken müsste. Sie ist zwar durch Medikamente in eine Art künstlichen Schlaf versetzt, aber dennoch muss sie hermetisch abgeschirmt werden.

    " Ein Problem, das diese Patienten haben: Die haben auch eine Beteiligung des autonomen, des vegetativen Nervensystems, das heißt sie reagieren sehr stark auf äußere Reize. Und da ist es ganz wichtig, diese Patienten abzuschirmen, zum einen medikamentös, aber auch räumlich. Also Lichtreize, Berührungsreize, akustische Reize sollten so wenig wie möglich da sein, denn was bei diesen Patienten passiert: Wenn ein Reiz kommt, spannen diese Muskeln noch einmal zusätzlich an, also, die sind da sehr, sehr labil."

    Jeder fünfte Tetanus-Patient stirbt trotz aller ärztlichen Kunst. Denn es kommt oft zu lebensbedrohlichen Komplikationen: So können die Muskelkrämpfe so stark sein, dass in der Wirbelsäule Brüche entstehen. Die Atmung ist nur noch flach, dadurch droht eine Lungenentzündung. Auch der Kreislauf kann zusammenbrechen. Und dieser furchtbare Zustand kann über Wochen anhalten.

    Wundstarrkrampf ist zum Glück eine seltene Erkrankung. Denn die meisten Menschen sind hierzulande gegen Tetanus geimpft, meist schon im Kindesalter. Der Impfschutz ist auch sehr zuverlässig. Aber: Er hält nicht ein Leben lang. Er muss regelmäßig durch neue Impfungen aufgefrischt werden.

    " Das ist genau die Situation, die jetzt bei diesen älteren Patienten der Fall ist. Das sind alles Menschen, die viele kleine Verletzungen durchgemacht haben und auch immer gerne berichten: da sehen sie keine Notwendigkeit, sie haben sich schön öfter im Garten verletzt, warum sollen sie sich impfen lassen? Daher ist es auffällig, dass die Patienten, die am Robert Koch Institut erfasst sind, alle 70 bis 80 Jahre alt sind. Und in solchen Fällen besteht das Risiko, dass es zumindest zu einer abgeschwächten Verlaufsform von Tetanus kommt."

    Vollkommen geschützt ist nur, wer drei Impfungen als Grundimmunisierung bekommen hat. Und darüber hinaus muss alle 10 Jahre dieser Schutz aufgefrischt werden. Dazu reicht jeweils eine einzige Spritze. Geimpft wird jeweils mit einer besonderen, inaktiven Form des Tetanustoxins. Von diesem Toxin geht keine Gefahr mehr aus, aber der Körper bildet als Reaktion auf die Injektion Antikörper. Und die schützen dann für die nächsten 10 Jahre.

    Nach vier Wochen war das Schlimmste überstanden. Anna Winkel hatte Glück im Unglück: Die Krämpfe ließen nach, nur die Hände und Finger sind noch ein wenig steif. Und auch die Atmung macht Probleme, daher hat sie jetzt zuhause ein Inhalationsgerät, mit dem sie bei Bedarf Sauerstoff einatmen konnte. Wann sie wieder im Garten arbeiten kann, ob sie überhaupt jemals wieder ihre Blumenbeete versorgen kann, weiß sie nicht. Aber sie lebt. Und das ist nach einer Tetanusinfektion alles andere als selbstverständlich.