Dienstag, 30. April 2024

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Künstler-Kollektiv SIGNA
Wir, die Zuschauer, sind die Kandidaten

Von Alexander Kohlmann | 07.11.2015
    Zwei Stunden nach Beginn der Performance finde ich mich in einem Krankenbett wieder. Eine junge, kühle Krankenschwester beugt sich zu mir herunter und fragt mich: "Wissen Sie schon, wie Sie beerdigt werden wollen?" Im Bett neben mir ist ein älterer Mann den Tränen nahe. Schwester Klara war auch bei ihm und hat Erinnerungen ausgelöst, an einen geliebten Menschen, der vor kurzem gestorben ist. Etwas später kommt ein Arzt zu mir und sagt, dass es jetzt so weit sei. Immer langsamer piept der Ton, der meinen Herzschlag abbilden soll. Bis er als langgezogener, schriller Piep Ton endet.
    Das Künstler-Kollektiv SIGNA ist bekannt für seine grenzüberschreitenden Performances. Theaterabende sind das, in denen der Zuschauer sich niemals in die gemütliche Ruhe eines dunklen Zuschauerraums zurückziehen kann, sondern immer mitspielen muss. Bei SIGNA werden die Besucher zu einem Teil einer bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten künstlichen Realität. Die beginnt diesmal vor der ehemaligen Staatlichen Gewerbeschule für Bauhandwerker in Hamburg. Nur circa 60 Besucher können an dem Abend teilnehmen und warten auf Einlass.
    "Söhne & Söhne" steht über dem mächtigen Eingangsportal aus der Kaiserzeit. Schon im Foyer huschen ernst blickende Männer und Frauen in altmodischen, grauen Business-Kostümen durch die Gegend. Über eine kleine Pförtnerloge, in der unsere Namen erfasst werden, gelangen wir ins Innere des Konzerns. In einer heruntergekommenen Aula werden wir von einem alten, senilen Firmenboss begrüßt.
    "Niemand wird uns jemals den Stuhl vor die Tür setzen. Niemand wird uns jemals entsorgen wollen."
    "Söhne & Söhne", das ist ein weltumspannendes Firmennetzwerk, das für seine Hamburger Filiale neue Mitarbeiter sucht. Heute Abend soll der Testlauf stattfinden. Wir, die Zuschauer, sind die Kandidaten. Jeder erhält ein Klemmbrett, in dem er fortan seinen Bewertungsbogen mit sich herumschleppen muss. Und eine Nummer. Denn mit dem Eintritt in die Firma "Söhne & Söhne" muss jeder Mitarbeiter seinen bürgerlichen Namen ablegen. Ich heiße fortan "Sohn 37". Auf dem Klemmbrett steht auch ein Zeitplan, der von Besucher zu Besucher variiert und in den nächsten sechs Stunden acht Stationen vorsieht.
    "Nummer 21, Sohn. Nummer 22, Sohn. Nummer 23, Sohn"
    Ein freies Entdecken dieser Welt, wie es in vielen früheren SIGNA-Produktionen möglich war, ist nicht vorgesehen. Jeder Besucher muss streng seinem Plan folgen. Die künstliche Realität erweist sich diesmal als enttäuschend eingeschränkt. Man sitzt zwar nicht im Publikumsraum, aber man ist auch nicht frei. Die Inszenierung nimmt unermüdlich ihren Lauf. Die Stationen entpuppen sich als mehr oder minder psychologische Aufnahmetests, in denen die Kandidaten bewertet werden. Die Krankenstation ist einer dieser Tests. Ein anderer simuliert eine Kriegssituation.
    Und genau da liegt das Problem des Abends. Die Mitarbeiter sind Schauspieler und kein psychologisch geschultes Personal, aber sie dringen mit ihren Fragen tief in die Lebensgeschichte der Besucher ein - und bringen Dinge zu Tage, für die eine Performance vielleicht der falsche Ort ist. Auf der Kinderstation sollen wir unter der Anleitung zweier sich gegenseitig bekriegender Schwestern auf einer Kissenwiese Platz nehmen. Dann soll jeder mit einem Plastik-Telefonhörer ein Gespräch mit seiner Mutter führen - und ihr sagen, was er ihr schon immer mal sagen wollte. Es gibt Besucher, die an dieser Stelle in regelrechte Hasstiraden ausbrechen, bevor sie alleine mit ihren Emotionen zurückgelassen werden.
    Im Gegensatz zur letzten großen SIGNA-Arbeit in Hamburg bleibt die Story hinter den Psychospielchen diesmal erstaunlich dünn. Konnte man sich in "Schwarze Augen, Maria" vor zwei Jahren in einer gespenstischen Wohngemeinschaft frei bewegen und in einem Puzzlespiel einen Kriminalfall lösen, ist die künstliche Realität in "Söhne & Söhne" slapstickhaft überhöht und ziemlich simpel. In sieben Jahren sollen alle Menschen zu Staub zerfallen, raunt mir eine der Ordnerinnen ins Ohr. Wenn es der Psycho-Sekte bis dahin nicht gelingt, die gesamte Menschheit zu Mitgliedern zu machen, drohe der Weltuntergang.
    Im obersten Stock des Hauses werden wir in einem edel getäfelten Büro vom Ober-Sohn auf einen Umtrunk eingeladen. Wie der Bond-Gegenspieler Dr. Evil sitzt der Sekten-Chef in einem grauen Anzug in einem schweren Sessel - und guckt jedem Einzelnen von uns tief in die Augen. Zwischendurch streichelt er eine tote Katze, die seine Mitarbeiter hinter ihm hertragen müssen. Gespielt wird dieser "Boss of it all" von Signa Köstler persönlich. Ihre Ausstrahlung, wenn sie meine Hand nimmt und vom drohenden Weltuntergang fabuliert, ist groß. Aber sie kann mit ihren Worten die volle Wirkung diesmal nicht entfalten. Denn es fehlt die schlüssige Geschichte - hinter der aufwändigen Performance.