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"Die Debatte ist jetzt hoch politisiert"

Nachdem bei Zusammenstößen zwischen Revolutionsgarden und der Armee über 50 Menschen starben, spricht die Islamwissenschaftlerin Annette Ranko von "verhärteten Fronten". Trotz der chaotischen Lage sieht sie aber mittelfristig Chancen auf eine "nationale Einigung".

Annette Ranko im Gespräch mit Friedbert Meurer | 09.07.2013
    Friedbert Meurer: Über 50 Tote – das ist die traurige Bilanz der Auseinandersetzungen zwischen den ägyptischen Revolutionsgarden, einer Sondereinheit der Armee, und den Salafisten vorletzte Nacht. Die Armee behauptet, bewaffnete radikale Salafisten hätten die Soldaten angegriffen. Die Salafisten sagen umgekehrt, das war ein Massaker. Die Ermittlungen laufen, aber vor allem könnten jetzt die Islamisten erst recht radikalisiert werden.
    Annette Ranko ist Politik- und Islamwissenschaftlerin am Giga-Institut für Nahost-Studien. Das ist ein Institut in Hamburg, das politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Afrika, Asien oder Nahost untersucht und miteinander vergleicht. Sie ist bei uns jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Ranko!

    Annette Ranko: Guten Morgen.

    Meurer: Was ist Ihre Meinung, wer trägt die Verantwortung für die über 50 Toten in der ägyptischen Kaserne?

    Ranko: Ja, wie wir schon gehört haben, gibt es zwei Varianten dazu, und Muslimbruderschaft und Militär schieben sich momentan gegenseitig die Schuld dafür zu. Die Fronten sind zunehmend verhärtet. Während die Muslimbruderschaft behauptet, man hätte auf eine friedfertige Menge, die beim Morgengebet war, geschossen, sieht der Bericht des Militärs natürlich ganz anders aus und spricht von radikalen Islamisten, die die Kaserne versucht haben anzugreifen. Es wird natürlich jetzt schwierig sein, den Tatsachen auf den Grund zu gehen, was sich tatsächlich abgespielt hat.

    Meurer: Werden wir das jemals erfahren?

    Ranko: Ja das ist schwierig zu sagen, denn die Debatte ist jetzt hoch politisiert und wir haben zwei Fronten, eine islamistische Front und die Front des Militärs, die sich hier unversöhnlich gegenüberstehen.

    Meurer: Was wird dieses Ereignis, diese 51 Toten, von denen die Salafisten sagen, das war ein Massaker, was wird das im islamistischen Lager auslösen?

    Ranko: Das hat momentan schon zu einem Schulterschluss geführt. Die ägyptische salafistische al-Nour-Partei, die bisher ja die Road Map des Militärs unterstützt hatte, zieht sich jetzt zurück aus dem Übergangsprozess. Wir sehen auch, dass der Chef der al-Azhar bereits schon angekündigt hat, dass das Blutvergießen ein Ende haben muss. Insofern verhärten sich die Fronten jetzt zunehmend. Man hat hier ein islamistisches Lager und ein nicht-islamistisches und militärisches Lager.

    Meurer: Wir haben ja immer gedacht, die Salafisten – und die waren das ja in der Kaserne und über die reden wir -, das sei eine besonders radikale Gruppierung. Warum hat dieses Lager eigentlich mit den Liberalen Kräften zusammengearbeitet, um Präsident Mursi zu stürzen?

    Ranko: Es gibt auch im salafistischen Lager ganz unterschiedliche Kräfte. Das ist auch nicht so homogen, wie es oft uns hier vorkommt. Es gibt alte, ehemals gewaltbereite Kräfte, die in den 90er-Jahren Gewalt in Ägypten ausgeübt haben, dann gibt es aber auch einen apolitischen Teil, der bisher sich immer nur mit Predigen und sozialer Arbeit beschäftigt hatte, bis zum Sturz Mubaraks, und erst seither in die Politik eingetreten ist, und dieser Teil hat zum Schutz des Friedens in Ägypten beschlossen gehabt, als man gesehen hatte, dass die Proteste gegen Mursi so stark anwachsen, sich auf die Seite des Militärs zu schlagen, aber einzig und allein nur, um weiteres Blutvergießen oder einen Bürgerkrieg zu beenden. Das ist jetzt auch der Grund, warum dieser Teil des salafistischen Spektrums sich jetzt wieder zurückzieht aus den Gesprächen und der Kooperation mit dem Militär, da man sagt, das Blutvergießen hat kein Ende und diese Maßnahmen sorgen nicht dafür, dass Stabilität und Ruhe einkehren in der Gesellschaft.

    Meurer: Sie haben das islamistische Lager sehr gut kennengelernt und studiert durch Ihre Doktorarbeit, die Sie über die Muslimbrüder in Ägypten geschrieben haben. Wie war das für Sie, als Frau dort zu recherchieren?

    Ranko: Es war unproblematischer als erwartet, auch als Christin, sozusagen nicht als Muslimin zur Muslimbruderschaft zu forschen. Ich habe zu allen Fragen, die ich gestellt habe, ganz normale sachliche Antworten bekommen, wurde auch immer weiter empfohlen zwischen Interviewpartnern und konnte meine Recherchen eigentlich ungehindert führen.

    Meurer: Was war Ihr Ergebnis?

    Ranko: Was genau meinen Sie?

    Meurer: Was sind das für Leute von der Muslimbruderschaft, um die Frage so zu stellen?

    Ranko: Es gibt auf jeden Fall verschiedene Lager. Es ist auch eine sehr heterogene Gruppe. Es gibt politisch-pragmatische, die Vertreter natürlich, die wir heute in der Partei der Muslimbruderschaft haben. Professionelle Politiker sind das, die sich ebenso wie Politiker der anderen Parteien, der nicht-islamistischen Parteien gegeben haben. Dann gibt es aber auch den Teil, der doch eher sich auf die religiöse Arbeit und soziale Arbeit, zu dieser Arbeit verschrieben hat innerhalb der Muslimbruderschaft. Die sind weniger politisch versiert, auch stärker in sich gekehrt und sprechen davon beispielsweise, dass die Muslimbruderschaft die wahre Stimme des Islams sei, während hingegen aber die Politiker, die pragmatischen Politiker immer davon sprachen, dass der Auftrag der Muslimbruderschaft sei, das politische System zu verändern, und dass es auch verfassungsmäßiges Recht der Muslimbruderschaft sei, sich politisch zu engagieren. Man sieht hier, dass auch ganz unterschiedliche Narrative in der Organisation dazu bestehen, was die Gruppe für eine Legitimität und was sie für einen Auftrag hat.

    Meurer: Die letzte Nachricht, Frau Ranko, die wir hier hören: Der Übergangspräsident Mansur hat jetzt gesagt, wir arbeiten eine neue Verfassung aus, da gibt es dann eine Volksabstimmung, und in einem halben Jahr hoffen wir, dass es Neuwahlen gibt. Glauben Sie, dass die Muslimbrüder mitmachen werden?

    Ranko: Momentan lehnen sie ja den ganzen Prozess, der jetzt angestoßen wurde, komplett ab. Man kann nur hoffen, dass beiderseits, also seitens des Militärs und seitens der Muslimbruderschaft, es hier zu einer Kooperation kommen wird. Denn sollte es tatsächlich so sein, dass sich eine Kraft wie die Muslimbruderschaft, die ja doch eine große Unterstützung auch in der Bevölkerung hat, wie wir ja auch jetzt wieder sehen, es wäre natürlich fatal, wenn sie aus dem politischen Prozess sich selber ausschließt und isolieren würde oder ausgeschlossen werden würde. Das könnte dann doch zu einer Radikalisierung zumindest mancher Teile im islamistischen Spektrum führen.

    Meurer: In Algerien hatten wir vor einigen Jahren eine ähnliche Situation: die islamistische Heilsfront FIS gewinnt die Wahlen, dann gab es einen Militärputsch. Hier streitet man sich ja in Ägypten: War es ein Putsch, muss man das anders nennen. Drohen algerische Verhältnisse in Ägypten mit einem Bürgerkrieg, den es ja in Algerien gab, mit Hunderttausenden von Toten?

    Ranko: Um genau dies zu verhindern, ist es so besonders wichtig, dass die Muslimbruderschaft und zumindest ihr politischer Arm, also ihre Partei, eingebunden werden in den politischen Prozess und dass beide Seiten hierzu bereit sein werden, um solche Verhältnisse zu verhindern.

    Meurer: Wird es Bürgerkrieg geben oder nicht?

    Ranko: Ich würde auf keinen Fall jetzt den Teufel an die Wand malen wollen zu diesem Zeitpunkt. Ich denke, dass die Chancen auf Vereinigung, auf eine nationale Einigung mittelfristig gegeben sind.

    Meurer: Die Politik- und Islamwissenschaftlerin am Giga-Institut für Nahost-Studien in Hamburg Annette Ranko sieht nicht ganz so schwarz, was die Entwicklung in Ägypten angeht. Danke schön, Frau Ranko, für das Gespräch und auf Wiederhören.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.