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Sport-Chronik der Wende

Auch Insider aus dem Sportmedizinischen Dienst der DDR verließen den SED-Staat vor dem Mauerfall. Über sie war in den Jahren 1989/90 kaum etwas zu hören – aus gutem Grund.

Von Grit Hartmann | 22.08.2010
    Im Mai 1988 sitzt Dr. Dietrich Behrendt im Interzonenzug nach Ost-Berlin. Er kommt von einem Workshop an der Sporthochschule in Köln und wird, weil er für die Heimreise nicht die befohlene Strecke nutzt, im Zug schikaniert. Das bringt bei dem Chemiker, der sagt, er habe DDR und deutsche Teilung innerlich nie akzeptiert, zum Überlaufen, was sich lange angestaut hat:

    "Das Unglücklichsein über diese ständige Verlogenheit. Und dass das, was man am Ende tat, dazu diente, dass Unrecht getan wird. Denn Kinder mit Hormontabletten versehen, ist Unrecht, es ist kriminell. Und da stak man mit drin. Ich konnte einfach nicht mehr."

    In Berlin-Wannsee steigt Behrendt aus. Damit ist ein Hochkaräter aus dem Sportmedizinischen Dienst der DDR im Westen. Nicht der Erste: 1974 - Dr. Alois Mader, Sportmediziner aus Halle. Zwischen 1977 und 1984 die Verbandsärzte Rudern, Ringen, Skisport. 1987 - Dr. Hartmut Riedel, Leichtathletik. Behrendt, obgleich kein SED-Mitglied, war stellvertretender Leiter des Doping-Kontrolllabors in Kreischa. Er sagt,...

    "... dass dieses Labor 1977 nicht mit dem Ziel gegründet wurde, um Doping zu bekämpfen, sondern um Doping zu ermöglichen. Die Ausreisekontrollen dienten dazu, dass das vorher stattgefundene Anabolikadoping nicht entdeckt werden konnte."

    Öffentlich kann Behrendt über die Geheimnisse des DDR-Sports nicht sprechen. Am Telefon hat ihm Manfred Höppner, ärztlicher Drahtzieher des Staatsdopings und inoffiziell für das MfS im Einsatz, gedroht - mit Folgen für Frau und Sohn, die in Dresden Ausreiseanträge stellen und bereits der üblichen Sippenhaft ausgesetzt sind. Intern ist er auskunftsbereit. Indes: Aus dem Sport fragt kaum einer. Behrendt wundert das, schließlich steht Olympia in Seoul an:

    "Das wird eine Millimeterentscheidung. Otto oder Sterkel - das ist die Frage. Und Otto gewinnt! Das sechste Gold! Bravo Kristin Otto!”"

    Otto, deren in Kreischa gemessene extrem hohe Testosteronwerte nach 1990 publik werden, wird "Königin der Spiele". Erich Honecker feiert:

    ""Wenn Sie, liebe Sportlerinnen und Sportler, nach harten Wettkämpfen 37 Olympiasiege und insgesamt 102 olympische Medaillen erringen konnten, dann kann man wohl mit Fug und Recht von einem prächtigen Kollektiv sprechen. Das Wunder, von dem man angesichts der Erfolge unserer Sportlerinnen und Sportler immer wieder in aller Welt spricht, ist kein Geheimnis. Es heißt Sozialismus."

    Als Wahrer des realen Geheimnisses haben sich auch die Sportbrüder aus dem Westen bewährt. Dietrich Behrendt kann beispielsweise dem Kölner Analytiker-Kollegen und obersten Dopingjäger der Bundesrepublik Manfred Donike kaum noch Neues mitteilen:

    "Er war sich darüber im Klaren, dass locker vom Hocker gedopt wurde, mit Testosteron und auch mit Oral-Turinabol. Er war sich auch darüber im Klaren, dass vor den Ausreisen Kontrollen gemacht wurden."

    Nur ein weiterer Mächtiger des Sports interessiert sich für den ostdeutschen Dopinganalytiker: Emil Beck, Medaillenmacher aus Tauberbischofsheim und Vorsitzender des Trainerrates beim Deutschen Sportbund.

    "Der suchte natürlich den östlichen Sachverstand für seine Zwecke einzubinden, und hat mich eingeladen, mal sein Trainingszentrum anzuschauen. Ihm schwebte da vor, dass er jemanden hat, der da auch so ein bisschen unterstützende Maßnahmen – das lege ich ihm jetzt in den Mund, das hat er nicht offen ausgesprochen – machen kann, die er auch in Tauberbischofsheim selbst kontrollieren kann, das wäre natürlich schön ... "

    Behrendt findet eine Anstellung beim Bundesgesundheitsamt, arbeitet im Verbraucherschutz und hat das Gefühl, endlich etwas Sinnvolles zu tun. Im Herbst 1989 bittet Kreischa erstmals zum Pressegespräch. Das "Sportecho" schreibt: "Nicht alle wissen, dass das Labor gegen Doping arbeitet." 1990 gerät einer der geflüchteten Sportmediziner kurz in den Fokus, Behrendt kennt ihn – in Kreischa stand eine riesige Kühltruhe mit Urinproben für seine sogenannten Forschungen:

    "Er war ein Karrieristentyp. Der hatte mit Sicherheit nicht die Gewissensbisse, die ich hatte, weder vorher noch nachher."

    Das Nachher, das Karriere-Kontinuum von Hartmut Riedel, erhellt, warum es im Interesse des Sports lag, die Flüchtlinge nach dem Mauerfall mit einem Tabu zu belegen. Deutsch-deutsche Dopingkumpanei sollte kein Thema sein. Riedel wurde in Bayreuth zum Professor berufen. Seine Habilitation – er untersuchte die Wirkung von Anabolika bei Hunderten Leichtathleten – legte er nicht vor, dafür aber ein lobendes Gutachten des Freiburger Olympiaarztes Joseph Keul. 1990 wirkt der Doktor überdies als Betreuer der Mittelstrecklerinnen.

    Heute praktiziert Riedel als niedergelassener Arzt. Auffälliger agiert Kollege Alois Mader, bis zur Pensionierung an der Sporthochschule Köln. Er trat im Westen wiederkehrend als Anabolika-Verharmloser auf. Kürzlich schrieb er einen bizarren Offenen Brief, in dem er den Doping-Historiker Gerhard Treutlein attackierte.

    Dietrich Behrendt bestätigt 1998 im Pilotprozess zum DDR-Staatsdoping als Zeuge noch die Echtheit von Protokollen, die Kristin Otto und Andere als gedopt ausweisen sollen. Vom Sport hat er sich da schon abgewandt; auch, weil keiner etwas gewusst haben wollte:

    "Und das, finde ich, das ist eigentlich furchtbar, dass so etwas nach 1989 überhaupt akzeptiert wurde. Und da, meine ich, sind die bundesdeutschen Sportverbände durchaus auch als Schuldige anzusprechen, die bedenken- und kritiklos Mediziner und Trainer eingestellt haben in ihrer Gier, sie könnten dadurch große Vorteile und Medaillen erringen, dass sie dieses östliche Wissen mit integrieren."