Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Punkpoetin Patti Smith

Patti Smith ist Dichterin, Performance-Künstlerin, Malerin und Fotografin. In ihrer Autobiografie "Just Kids" erinnert sie sich an ihren verstorbenen Gefährten -den bildenden Künstler und Fotografen Robert Mapplethorpe.

Von Anette Brüggemann | 25.03.2010
    "Als ich ganz klein war, machte meine Mutter mit mir oft Spaziergänge im Humboldt Park am Prairie River entlang. Der schmale Lauf des Flüsschens mündete in eine weite Lagune, auf deren Wasserspiegel sich mir ein einzigartiges Schauspiel bot. Ein langer, geschwungener Hals entsprang einem weißen Federkleid. Es trappelte auf dem klaren Wasser, schlug mit seinen großen Flügeln und erhob sich in den Himmel. 'Schwan', sagte meine Mutter, die meine Erregung spürte. Aber das bloße Wort gab weder die Großartigkeit des Geschöpfs wieder, noch wurde es der Gemütsbewegung gerecht, die es hervorrief. Bei seinem Anblick regte sich ein Impuls in mir, für den ich keine Worte hatte, ein Verlangen, von dem Schwan zu sprechen, etwas über sein Weiß zu sagen, die Explosivität seiner Bewegungen, den langsamen Schlag seiner Flügel."

    So poetisch und ausdrucksstark beginnen die Memoiren der Punkpoetin Patti Smith. Die Eindimensionalität der Sprache, das enge Korsett von Zeichen und Bedeutung, sind für Patti Smith eine Hülle, die sie im Lauf ihres Lebens radikal abstreifen wird. Mit 16 beendet sie ihre Schulausbildung und beginnt in einer Fabrik zu arbeiten. Eine Erfahrung, die sie später in ihrem Song "Piss Factory" verarbeitet.

    Mit 19 ist sie schwanger. Sie entschließt sich, das Kind auszutragen und zur Adoption freizugeben. Trost findet sie in dieser Zeit in den Texten des französischen Dichters Arthur Rimbaud. Seinen Gedichtband "Illuminationen" hat sie an einem Bücherstand in Philadelphia entdeckt. Das berühmte Porträt Rimbauds, in dem er mit kindlichem und zugleich ehrfurchtslosem Blick der Welt begegnet, berührt Patti Smith. Sie liest seine Gedichte vom "Ausbruch der Sinne, vom Zigeunerleben" – und empfindet seine Zeilen wie eine Rettung:

    "Rimbaud besaß den Schlüssel zu einer mystischen Sprache, die ich verschlang, ohne sie ganz enträtseln zu können. Meine unerwartete Liebe zu ihm war so real für mich wie alles, was ich tatsächlich erlebt hatte. In der Druckerei, in der ich mit einer Gruppe von raubeinigen, ungebildeten Frauen arbeitete, wurde ich in seinem Namen schikaniert. Sie verdächtigten mich, Kommunistin zu sein, weil ich ein Buch las, und gingen auf dem Klo auf mich los, um mich dazu zu bringen, ihm abzuschwören. In dieser Atmosphäre begann es in mir zu gären. Nur für ihn schrieb und träumte ich. Er wurde mein Erzengel, der mich aus dem profanen Schrecken der Druckerei erlöste. Ich warf meine Ausgabe der Illuminationen in einen karierten Koffer. Wir würden zusammen fliehen."

    Patti Smith lässt ihre provinzielle Heimat New Jersey zurück. Sie übernachtet im Central Park, hat kein Geld und versucht händeringend einen Job in einem Buchladen zu bekommen. Immer wieder begegnet ihr ein blasser, dünner Junge mit dunklen Locken und Glasperlenketten um den Hals. Und doch wird es eine Weile dauern, bis der Junge, den Patti Smith für einen faszinierenden Exoten hält, und sie ein Paar werden.

    Das symbiotische Künstlerpaar Patti Smith und Robert Mapplethorpe - das ist der Kern des Buches "Just Kids" und eine ungemein berührende Geschichte. Sind sie doch wie ein ineinander verschränktes Nervensystem, das alle Krisen und Trennungen übersteht. Auch als Robert Mapplethorpe seine sexuellen Extreme als Stricher und in der SM-Szene auslebt, läuft Patti Smith nicht weg. Er dankt es ihr mit kompromissloser Ehrlichkeit und seinem Vertrauen: "Niemand sieht, wie wir sehen, Patti", wiederholt er als Mantra in schwierigen Stunden. "Widersprüchlichkeit ist der eindeutigste Weg zur Wahrheit", ist die Lektion, die Patti von Robert lernt. Im selben Jahr, 1969, als Neil Armstrong den Mond betritt, betreten sie das legendäre Chelsea Hotel im New Yorker Greenwich Village. Robert, erkrankt an Mundfäule und Tripper, braucht Hilfe. Und Patti reagiert wie immer erfinderisch. Sie geben ihre Kunst dem Chef des Künstlerhotels, das auch einen Arzt beherbergt, in Zahlung.

    "Ich bin im Mike-Hammer-Modus, qualme Kools und lese billige Krimis, während ich in der Lobby sitze und auf William Bourroughs warte. Er kommt rein, todschick in dunklem Gabardinemantel, grauem Anzug und Krawatte. Ich bin seit ein paar Stunden auf meinem Posten und kritzele Gedichte. Zwischendurch beobachte ich den Betrieb. Ich habe immer ein Auge auf das Kommen und Gehen in der Lobby mit ihrer schlechten Kunst an den Wänden. Großformatiges lautes Zeug, das Stanley Bard statt der Miete aufgedrückt worden ist. Das Hotel ist eine dynamische, desperate Anlaufstelle für zahllose begabte Kinder aus allen sozialen Schichten, die alle irgendwas zu verkaufen haben. Die üblichen Jungs mit Gitarrenkoffern und völlig weggetretene Schönheiten in viktorianischen Kleidern. Junkie-Poeten, Bühnenautoren, bankrotte Filmemacher und französische Schauspielerinnen. Jeder, der hier durchmarschiert, ist irgendwer, auch wenn er draußen ein Niemand ist."

    Patti Smith und Robert Mapplethorpe sind Anfang 20, als die 70er-Jahre beginnen. "Jetzt kommt unser Jahrzehnt", beschwört Robert. Ihre einsame Künstlerexistenz hat ein Netz gefunden. Und sie werden einige der Bedeutendsten ihrer Generation treffen – im Club, auf Partys, im Donut-Laden um die Ecke – darunter Jimi Hendrix, Neil Young, Lou Reed, Andy Warhol, Salvador Dalí, Janis Joplin und Bob Dylan. Patti Smith verabschiedet sich von ihren mädchenhaften langen Haaren und legt sich einen androgynen "Keith-Richards-Haarschnitt" zu. Robert Mapplethorpe glättet sich seine Haare zur Rockabilly-Frisur. Überhaupt ist jeder Look bei Patti Smith mit einem sprechenden Namen versehen - von der "Majakowski-Mütze" bis hin zum "Jenseits-von-Eden"- Outfit. Sie zieht die Kunst anderer wie einen Mantel über. Und inhaliert den Geist der Zeit. Vor allem die Beatniks haben es Patti Smith angetan. Allen Ginsberg lernt sie vorm Sandwich-Automaten im Chelsea-Hotel kennen. Und auch Gregory Corso und William Borroughs werden zu Vertrauten. Zeit für Patti Smith aus ihrem Dichterinnen-Schlaf zu erwachen – fortan skandiert sie ihre Verse, atemlos, synkopisch zu Rockakkorden:

    Im Vergleich zu Robert Mapplethorpe ist Patti Smith eine Spätzünderin. Während er mit ersten Ausstellungen – messerscharfen Schwarz-Weiß-Fotos von Männerhintern und Blütenkelchen – für Furore sorgt, hadert sie mit ihrer Aussage, möchte ein gesellschaftliches Statement hinterlassen und weiß nicht wie. Robert forciert sie, ihre erste Platte aufzunehmen, die er finanziert. Patti Smith gründet die Patti Smith-Group und wird mit ihrem weiblichen Rebellentum nicht nur zur Punkrock-Sängerin der ersten Stunde, sondern zur Ikone der Frauenbewegung. Das berühmte Cover von Patti Smiths erstem Album "Horses" fotografiert ihr Freund Robert Mapplethorpe.

    "Ich warf mir meine Jacke über die Schulter wie Frank Sinatra. Ich hatte den Kopf voller Zitate. Er nur Licht und Schatten im Kopf. 'Ich hab's' 'Woher weißt du das?' 'Ich weiß es eben.' Er machte an dem Tag zwölf Aufnahmen. Nach ein paar Tagen zeigte er mir die Kontaktabzüge. 'Das hier hat Magie', sagte er. Wenn ich das Foto heute betrachte, sehe ich nie mich. Ich sehe uns."

    An Rimbauds Geburtstag, dem 20. Oktober 1972, ziehen Robert und Patti auseinander. Robert Mapplethorpe hat seine große Liebe, den Kunstsammler und Kuraror Sam Wagstaff, gefunden. 1979 kehrt Patti Smith nach ihren ersten vier Alben und Erfolgen New York den Rücken. Sie entscheidet sich für ein Familienleben in Detroit mit dem Gitarristen Fred "Sonic" Smith, den sie 1980 heiratet und mit dem sie zwei Kinder bekommt. 1986 erfährt sie von Roberts Aids-Krankheit. Sie verspricht ihm, ihrer beider Lebensgeschichte aufzuschreiben. 1989 stirbt Robert Mapplethorpe.

    "Just Kids" ist ein literarischer Versuch, der sich bisweilen in Anekdoten und im name-dropping zu verlieren droht. Angenehm ist der unprätentiöse Blick von Patti Smith. Sie erzählt nicht von Glanz und Ruhm, sondern von Suchbewegungen, dem Tasten zweier Liebender und Kreativer auf dem Weg zu sich selbst – in einer Epoche, in der gesellschaftliche Werte neu definiert wurden. Somit ist "Just Kids" ein eindrückliches Zeitdokument. Ihr gemeinsames künstlerisches Credo "Ich vetraue dir, ich vertraue mir selbst" bleibt als starkes Echo zurück.


    Patti Smith: "Just Kids". Die Geschichte einer Freundschaft. Aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2010, 336 Seiten, 19,95 Euro

    Ende April erscheint das Hörbuch zum Buch von Patti Smith – gelesen von Sophie Rois, 4 Cd's, tacheles! Das Hörbuch-Label bei ROOF RECORDS, Vertrieb: Indigo, Best. Nr. 943712, 19,95 Euro, Eichborn: ISBN 978-3-941168-35-0

    Bis zum 15. August ist die Ausstellung "Robert Mapplethorpe" noch im NRW-Forum in Düsseldorf zu sehen