Militärgeschichte

Zoom in eine vergangene Zeit

Panzer der in Wünsdorf stationierten Armee, aufgenommen im Jahr 1992.
Panzer der in Wünsdorf stationierten Armee, aufgenommen im Jahr 1992. © picture alliance / dpa
Rezensiert von Heike Tauch · 12.07.2014
Der Bildband "Wünsdorf" ist ein stilles Kunstwerk, das nachdenklich macht. Ein melancholisches Dokument über ein eigenartiges Stück preußisch-deutsch-sowjetischer Geschichte – mit abblätternder Farbe und bröckelnden Bunkern.
Der gebürtige Berliner Andreas Franke, Jahrgang 1976, kam 2001 erstmalig nach Wünsdorf. Das war sieben Jahre nach Abzug der Truppen. Den damals 25-Jährigen faszinierte die bizarre Welt der verlassenen Kasernen, Bunker, Verwaltungsgebäude. Der fast 40 Jahre ältere Detlev Steinberg, in Breslau geboren, reiste in Zeiten des Kalten Krieges als Fotograf der DDR für die Bildagentur ADN durch die Welt. Häufig arbeitete er dabei auch in der Sowjetunion.
Die Beiträge für diesen Bildband entstanden in der Zeit zwischen 1992 und '94, als Steinberg die Gelegenheit wahrnahm, seine Kamera auf die in Wünsdorf stationierten sowjetischen Soldaten zu richten. Er dokumentiert nicht ihren Alltag, Steinberg porträtiert sie beim Verrichten eines Dienstes, der bald enden wird.
In der Mitte des Bildbandes "Wünsdorf – Wjunsdorf" findet sich das Foto "Wandgemälde im Haus der Offiziere". Das Foto zeigt das Gemälde zu einem Zeitpunkt, als die Natur sich die Wand weitgehend zurückerobert hat. Die Farbe blättert ab, manches ist kaum noch zu erkennen. Es entsteht eine seltsame Ästhetik, die der dargestellten sozialistischen Idealwelt eine melancholische und ungewollt selbstironische Note verleiht.
Unscheinbarer Ort mit großer Geschichte
Der unscheinbare Ort Wünsdorf, nur 40 Kilometer südlich von Berlin, schrieb vielleicht nicht Welt-, aber doch große Militärgeschichte:
Damit die muslimischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges ihren religiösen Pflichten nachkommen konnten, wurde in Wünsdorf 1914 die erste Moschee auf deutschem Boden errichtet, Wünsdorf war Sitz des Hauptquartiers der Reichswehr, nach Wünsdorf transportierte man 1919 den Leichnam der ermordeten Rosa Luxemburg zur Obduktion und 1935 bezog das Oberkommando des Heeres sein Hauptquartier in Wünsdorf, 1938 folgte das Oberkommando der Wehrmacht.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nahm wiederum Marschall Schukow dort sein Quartier, und nach 1945 blieb der Ort Sitz des Oberkommandos der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte, später "Westgruppe der Truppe" genannt. Bis eben zum Abzug der Truppen 1994.
Im linken Vordergrund von "Wandgemälde im Haus der Offiziere" erkennt man eine Wasserschleuse. Durch gigantische Schleusen strömen Wassermassen in Richtung Bildmitte und werden dort zu spitzwinkligen Wellen. Ein weißes Rechteck schließt sich an – eine Straße. Darauf ein Bus ohne Fahrgäste. Er fährt aus dem vorderen Bildrand heraus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fuhr – jedenfalls solange die Natur noch nicht eingegriffen hatte und es abblättern liess - ein weiteres Auto. Jetzt lässt es sich nur noch erahnen.
Im Bildhintergrund üppige Schlote von Kernkraftwerken, dazu fast grazil wirkende Schornsteine in Dreierreihe, davor eine Fabrik mit Rohren an Außenwänden von Großbehältern. Ein Kran bewegt eine 5-Jahres-Plan-Platte für den sozialistischen Wohnungsbau. Das fertiggestellte Haus hat keine Fenster - und keine Bewohner. Überhaupt: Auf diesem Bild gibt es kein Leben. Kein einziger Baum, kein Tier und eben auch kein Mensch bekam auf diesem Wandgemälde seinen Platz. Die sozialistische Utopie als Nirgendort für das Leben. Das Bild zeugt von einem aberwitzigen Glauben an die Beherrschbarkeit der Natur – nun legt es mit unfreiwilliger Komik Zeugnis von seinem Gegenteil ab. Zum Glück.
Sperrzone und Kommandozentrale
Wünsdorf – die "Verbotene Stadt" – war Sperrzone. Was sich in dieser Kommandozentrale, hinter Stacheldraht und Mauern abspielte, was dort geplant, geprobt, gedrillt, gebaut und gelagert wurde, blieb geheim. Bis zu 75.000 – manche Quellen schreiben von 100.000 - sowjetische Männer, Frauen, Kinder lebten hier strikt von der DDR-Bevölkerung abgeschottet. Heute, 20 Jahre nach Abzug der Truppen, wird nur ein kleiner Teil des mehrere hundert Hektar großen Geländes genutzt als Bücherstadt, Vortragsort, mit Ausstellungen und Führungen.
Das von Andreas Franke in Farbe aufgenommene Wandgemälde wird flankiert von den Steinbergschen Porträt-Aufnahmen in Schwarz-Weiß. Auf diesen finden sich nicht nur militärische Gleichförmigkeit, die naturgemäße Uniformiertheit des Militärs, sondern auch Augenblicke, in denen ein Soldat wieder ein Gesicht bekommt, zum Individuum wird, das missgelaunt seine Arbeit verrichtet oder kühn und keck in die Kamera blickt.
Einen ungewöhnlich eindringlichen Moment hält das Bild "Am Rande des Sportplatzes" fest: Zwei junge Männer mit freien Oberkörper umarmen sich zärtlich und blicken glücklich in die Kamera. Was würde Wladimir Putin zu dieser nackten Männerfreundschaft sagen? Würde er sie vors Militärgericht zitieren?
Diese Fotografien sind die Fermaten des Bildbands. Sie lassen verweilen, provozieren Fragen; sie zoomen eine vergangene Zeit heran.
Franke und Steinberg haben mit "Wünsdorf" ein eindringliches, stilles Kunstwerk geschaffen, das den Betrachter veranlasst, sich mit den eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen, die man sowjetischen oder russischen Soldaten entgegen zu bringen schnell bereit ist. Es macht nachdenklich. Nach dem Betrachten des Bandes und dem Lesen des aufschlussreichen Nachworts möchte man sich selbst auf den Weg nach Wünsdorf machen, um in dieses eigenartige Stück preußisch-deutscher Geschichte einzutauchen und direkt zu hören, was die abblätternde Farbe, die Steine, die Mauern und die Bunker zu erzählen haben.

Andreas Franke, Detlev Steinberg: "Wünsdorf - Eine russische Stadt in der DDR – 20 Jahre nach dem Abzug der Sowjetarmee"
Mit einem Nachwort von Dr. Helmut Domke in Deutsch/Russisch
Mitteldeutscher Verlag
120 Seiten, 24,95 Euro

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