Dienstag, 30. April 2024

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Kiewer Avantgarde
Valentin Silvestrovs 7. Symphonie

Als Vertreter der "Kiewer Avantgarde" zählte der Komponist Valentin Silvestrov einst in der UdSSR zu den geächteten Künstlern. Heute wird die unverwechselbare Innerlichkeit seiner Klangwelten geschätzt. Das Label NAXOS veröffentlicht jetzt eine litauische Produktion mit Orchestermusik.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 10.01.2021
    Hinter einem Klavierflügel sitzt ein älterer Mann, dessen Kopf sich auf der Flügeloberfläche spiegelt.
    Heute beim Schott Musikverlag: Der gebürtige Ukrainer Valentin Silvestrov. (imago / Kai Bienert )
    Musik: Valentin Silvestrov - Symphony No. 7
    "Bei der Entstehung von Musik ist der Komponist im Grunde nichts weiter als ein Dämpfer auf dem Klavier. Der eine heißt Beethoven, ein anderer Mozart oder X oder Y. Je nach seiner Veranlagung filtert so ein Dämpfer dieses oder jenes heraus. Er fasst etwas aus den kaum erfassbaren Wehen der Musik auf und verwandelt es in etwas Einzigartiges. Man darf keinen persönlichen Verdienst des Autors sehen."
    Diese geradezu demütig anmutende Äußerung stammt von dem ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov. Zurückhaltung und die Suche nach Ewigkeit im Vergänglichen zeichnen das Schaffen eines Künstlers, der hierzulande eher selten gespielt wird - auch wenn er in einem Atemzug mit Arvo Pärt oder Alfred Schnittke genannt wird. Er gilt als Einzelgänger, der sich mit Wohlklängen zwischen Spiritualität und Nostalgie bewegt. Mit oft klassisch-romantischem Vokabular greift eigenen Aussagen zufolge auf, "was bereits schon einmal geschaffen wurde und schon da ist". Silvestrov bezeichnet seine Kompositionen als "Meta-Musik". Im Mittelpunkt einer kürzlich beim Label NAXOS erschienenen CD steht die 7. Sinfonie in einer Weltersteinspielung und Aufnahme mit dem Staatlichen Sinfonieorchester Litauen unter der Leitung von Christopher Lyndon-Gee.
    Emotionen der Vergangenheit
    2003 entsteht die einsätzige "Sinfonie Nr. 7", die Silvestrovs doppeldeutige musikalische Sprache zwischen Gewaltausbrüchen und elegischen Momenten vereint. Die Entstehung dieses Werkes ist eng verbunden mit dem Tod seiner Frau Larissa 1996. Für sie komponiert er ein Requiem und bezeichnet diese Sinfonie als Begleitwerk dazu: "Momente schmelzender Schönheit und Sehnsucht greifen während der gesamten Symphonie ein. Eine nostalgische, wenn auch unsentimentale Klavierkadenz ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt des Werkes."
    Musik: Valentin Silvestrov - Symphony No. 7
    Das Thema Verlust und Verzweiflung will Valentin Silvestrov weniger als Klage gestalten, sondern Reichtum und melancholische Schönheit betonen, die
    niemals endgültig verloren gehe und immer in Ohr und Seele bleibe.
    Geboren wird Valentin Wassylowitsch Silvestrov am 30. September 1937 in Kiew. Über sein familiäres Umfeld gibt es kaum Informationen, aber er bekommt im Alter von 15 Jahren erstmals Klavierunterricht und erwirbt darüberhinaus viel als Autodidakt. Ab 1955 besucht er in Kiew die Abendschule für Musik und beginnt gleichzeitig ein Studium für Ingenieur- und Bauwesen, das er später abbricht, um sich ausschließlich der Musik zu widmen.
    Im Geist von Neo-Romantik
    Kontrapunkt, Harmonielehre und Komposition studiert Valentin Silvestrov am Konservatorium in Kiew. Sein Interesse gilt der Avantgarde und Dodekaphonie, jedoch stoßen seine frühen Kompositionen auf Kritik. Seine Musik wird nicht gespielt, da er als eine zentrale Figur der Künstlergruppe "Kiewer Avantgarde" gilt und sich damit gegen die herrschenden Kulturdoktrien auflehnt.
    Der Komponistenverband der UdSSR schließt ihn Ende der 1960er Jahre aus. Doch im Ausland findet Silvestrov schnell Gehör, als 1967 die amerikanische Koussevitzky-Stiftung ihm einen Kompositionsauftrag für eine Sinfonie erteilt. In den Niederlanden wird er 1970 beim internationalen "Gaudeamus"-Kompositionswettbewerb ausgezeichnet. Von diesem Zeitpunkt an verzichtet er auf konventionelle Kompositionstechniken der Avantgarde und findet zu seinem selbst formulierten Stil einer "metaphorischen Musik".
    Die viersätzige "Kantate Nr. 4" aus dem Jahr 2014 basiert auf verschiedenen mystischen russischen Textvorlagen aus dem 19. Jahrhundert. Silvestrov gestaltet hier in kurzen Phrasen und aufsteigenden Arpeggi. Inna Galatenko, Sopran wird von Oleg Bezborodko am Klavier begleitet.
    Musik: Valentin Silvestrov - Cantata No. 4, daraus: "Pastorale"
    "Die Zeit in Silvestrovs Musik sei ein schwarzer See. Das Wasser bewegt sich kaum, die Vergangenheit weigert sich wegzurutschen und die langsamen unregelmäßigen Bewegungen eines Ruderers bleiben an Ort und Stelle. Hier geht nichts verloren. Bei einer Melodie, die sich selten über mehr als fünf oder sechs Noten erstreckt, erklingt jede dieser Noten, unterstützt von anderen Stimmen oder Instrumenten und erzeugt eine dauerhafte Aura", so reflektiert der Musikkritiker Paul Griffiths Silvestros Musik. Auch das englischsprachig ausführlich begleitende Booklet durch den Dirigenten der Einspielung, Christopher Lyndon-Gee orientiert sich an Griffiths’ Beobachtungen.
    Den zweiten Satz "Pastorale" der "Kantate Nr. 4" greift Silvestrov in seinem "Concertino für Klavier und kleines Orchester" aus dem Jahr 2015 auf. Hier fungiert die Pastorale als Scherzo mit teilweise minimalistischen Zügen. Hörbar wird ein kraftvoller Dialog des Klaviers mit dem Orchester, wobei er die einzelnen Sätze mit kleinen, intimen harmonischen Gesten gestaltet.
    Musik: Valentin Silvestrov - Concertino for Piano and small Orchestra, daraus: "Pastorale"
    Erinnerungskultur
    Es sind Anklänge an Mozart, Schubert oder Filmmusik, die in dem Concertino durchschimmern. Silvestrov verzichtet aber auf Zitate und kreiert elegisch anmutende Stimmungen, die in ihren streckenweise hypnotisierenden Momenten in den Bann ziehen. Dass seine Kompositionssprache häufig Erinnerungen an Vertrautes weckt, bestätigt Silvestrov selbst und betont: "Ich schreibe keine Neue Musik. Meine Musik ist eine Antwort auf und ein Echo dessen, was bereits existiert".
    Der vierte Concertino-Satz "Postludium" endet mit kreisenden Phrasen nach einer Suche, die in der Harfe wiederhallt umgeben von Clustern oder Harmonien, die nie gänzlich verschwinden.
    Musik: Valentin Silvestrov - Concertino for Piano and small Orchestra, daraus: "Postludium"
    Das 1940 gegründete staatliche Sinfonieorchester Litauen spielt unter der Leitung des britischen Dirigenten Christopher Lyndon-Gee, der sich u.a. als Assistent von Bruno Maderna profilierte. Der Klangkörper scheint mit Silvestrovs Musik vertraut zu sein, denn die spezifischen Charakteristika seiner Klangsprache vermitteln sich in dieser Einspielung bereits nach wenigen Minuten.
    Zeitgleich zur 7. Sinfonie entstehen "Moments of Poetry and Music" nach einer Übersetzung eines Fragments von Paul Celan. Hierbei handelt es sich um eine Strophe aus dem Gedichtband "Sprachgitter" von 1959. Der Text entzieht sich jeglicher Singbarkeit und präsentiert sich als Ausdruck von Bildern, die sich kaum miteinander verbinden lassen. Beginnend mit einem aphoristischen zwölftönigen ersten Abschnitt für Sopran und Klavier, schließt sich der zweite Teil "Melodiya – post scriptum’" mit vielen Sequenzen voller Melancholie an.
    Dirigent Christopher Lyndon-Gee vergleicht die Textgrundlage von Paul Celan mit Silvestros hartnäckiger Umarmung der Musik in einer Zeit des Verlustes, "in der es kaum möglich sei etwas Vorhandenes zu hören, nur die Resonanzen dessen, was sich weigert, nicht nur in unserer Erinnerung, sondern auch in der Zusammensetzung unserer Zellen zu sterben".
    Musik: Valentin Silvestrov - "Moments of Poetry and Music"
    Auf der sechsten Strophe eines Gedichts des britischen Romantikers John Keats basiert die "Ode an eine Nachtigall" aus dem Jahr 1983, der ältesten Komposition auf dieser CD. Silvestrov geht es dabei nicht um eine Vertonung, vielmehr bietet der Text den Ausgangspunkt für eine elegische Stimmung, aber ohne jegliche Sentimentalität. In melodisch variationsartig wechselnden Phrasen lotet er klanglich originell und subtil den Text aus. Diese Klänge fesseln das Ohr binnen weniger Momente. Hier ein Ausschnitt in der endgültigen Fassung mit Orchester in einer Weltersteinspielung, die 2019 in Vilnius aufgenommen wurde.
    Musik: Valentin Silvestrov - "Ode to a Nightingale"
    Soweit Kompositionen aus verschiedenen Schaffensperioden von Valentin Silvestrov. In einer Aufnahme mit dem staatlichen Sinfonieorchester Litauen unter der Leitung von Christopher Lyndon-Gee. Als Solisten hörten Sie Inna Galatenko, Sopran und Oleg Bezborodko, Klavier. Erschienen ist diese Einspielung aus dem vergangenen Jahr beim Label NAXOS.
    Valentin Silvestrov
    Symphony No. 7 / Ode to a Nightingale / Piano Concertino
    Inna Galatenko, Sopran
    Oleg Bezborodko, Piano
    Lithuanien National Symphony Orchestra
    Christopher Lyndon-Gee, Leitung
    CD NAXOS 8.574123, LC 05537