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Entführt, gequält, gefoltert

Bei dem Thema Sklavenhandel denkt man sofort an die Versklavung von Schwarzafrikanern. Aber auch andernorts blühte der Handel mit Menschen. Und Sklaven waren zwar meistens, aber nicht immer Schwarze: Auch bis zu einer Million Europäer lebten zu jener Zeit in Nordafrika in der Sklaverei.

Von Moritz Behrendt | 14.06.2010
    Die Stärke und Kühnheit der Piraten aus der Berberei ist mittlerweile derart gewachsen, dass kaum jemals etwas größere Trauer oder Verstörtheit über diesen Hof gebracht hätte als die täglichen Meldungen über sie.

    Sir Francis Cottingham, Staatssekretär des englischen Königs Jakob I. gibt bereits Anfang des 17. Jahrhunderts seiner Verzweiflung Ausdruck: Die Piraten von Salé sind gefürchtet in England - und nicht nur dort. Die Korsaren aus der kleinen Freibeuterrepublik im heutigen Marokko plündern Küstendörfer in Spanien, Frankreich, an der englischen Westküste. Mit ihren Rahseglern stoßen sie in den 1620er-Jahren sogar bis nach Island vor und verschleppen von dort Männer, Frauen und Kinder nach Nordafrika.

    Die Geschichte der Piraten von Salé ist faszinierend und Giles Milton beschreibt sie höchst anschaulich. Aber er geht noch einen Schritt weiter. Und genau das macht sein Buch so außergewöhnlich. Milton beschreibt mit großer Detailtreue das Schicksal der nach Nordafrika verschleppten Sklaven:

    Nachdem sie vier elende Tage in den unterirdischen Verliesen von Salé verbracht hatten, wurden die Männer aus den Zellen geholt und als Gefangene nach Meknes geschickt. Die Männer fürchteten sich vor dem langen Marsch, da viele ihre Schuhe verloren hatten und nur noch Fetzen am Leib trugen.
    Milton zitiert ausgiebig aus Briefen, die von den Sklaven aus der Gefangenschaft geschrieben wurden. Vor allem verlässt er sich auf eine Quelle: Die Lebensbeschreibung des Thomas Pellow, dem nach mehr als zwei Jahrzehnten in der Sklaverei die Flucht aus Nordafrika gelang:

    In Pellows Bericht tummelt sich ein buntes Sammelsurium von Figuren. Er erzählt von kräftigen Eunuchen und brutalen Sklaventreibern. Von Hofhenkern und schurkischen Piraten. Und über ihnen allen thront der Sultan Mulai Ismail, dessen lange Regierungszeit von der Errichtung seines gewaltigen und opulenten Palastkomplexes beherrscht war.
    Pellow ist erst zwölf Jahre alt und Kabinenjunge, als sein Schiff, die Francis, vor der Küste der Bretagne von Piraten gekapert wird. Es ist das Jahr 1716, in Marokko regiert Mulai Ismail bereits seit vier Jahrzehnten. Ihm ist es gelungen, das Königreich zu einen, selbst die Piraten von Salé haben sich ihm unterworfen. Und in Meknes lässt er einen Palast errichten, der sich durchaus mit Versailles messen kann: Erbaut nicht zuletzt von europäischen Sklaven: Thomas Goodmann wurde gemeinsam mit Pellow nach Meknes gebracht. In einem Brief schreibt er:

    "Wenn wir zur Arbeit aufbrechen, wissen wir nicht, ob wir lebend zurückkehren werden oder nicht, denn sie sind sehr barbarische Menschen und geben uns nichts als Wasser und Brot."
    Mulai Ismail überwacht die Bauarbeiten am Palast selbst. Milton schildert ihn als äußerst blutrünstigen Potentaten mit unberechenbaren Launen:

    Zu seinen häufigsten Vergnügungen zählt, sein Pferd zu besteigen, seinen Krummsäbel zu ziehen und dem Sklaven, der ihm den Steigbügel hält, den Kopf abzuschlagen.

    In "Weißes Gold" wimmelt es geradezu von brutalen Folter- und Hinrichtungsberichten. Beinahe auf jeder Seite wird einem Sklaven vom Sultan höchstselbst der Kopf abgeschlagen oder von dessen Leibgarde das Genick gebrochen. Auch Thomas Pellow wird gefoltert. Von den Qualen wird er erst verschont, als er zum Islam übertritt. Als Konvertit übernimmt Pellow dann sogar wichtige Aufgaben im marokkanischen Königreich: Er bewacht den Harem des Herrschers und er führt später gar eine 300-Mann starke Truppe an, die daran beteiligt ist, einen Aufstand im Süden des Landes niederzuschlagen.

    Pellow war entsetzt darüber, dass er nicht länger nur ein Werkzeug von Mulai Ismails Herrschaft war, sondern diese nun auch durchsetzen sollte, schreibt Milton. Seine Schilderung der wichtigen Rolle mehrerer Tausend zum Islam konvertierter Sklaven in Nordafrika ist äußerst eindrucksvoll und facettenreich. Die Deutung seiner Schilderungen bleibt hingegen oft eindimensional: Ohne jede Wertung übernimmt Giles aus dem Lebensbericht Pellows dessen Darstellung, dass er während seiner 23 Jahre in Marokko eigentlich nur einen Gedanken gehabt habe: Nämlich den an die Flucht. Auf die durchaus plausible Vermutung, dass Pellow erst Fluchtgedanken hegte, als nach dem Tod Mulai Ismails seine vergleichsweise komfortable Stellung in Gefahr war, lässt sich Milton erst gar nicht ein. Ein Defizit, dass das Buch durchzieht: Der Autor untersucht an keiner Stelle, mit welcher Absicht die Briefe, aus denen er zitiert, verfasst wurden: Wenn etwa Sklaven in Briefen an die britische Regierung darum flehten, freigekauft zu werden, dann ist es jedenfalls naheliegend, dass sie die Qualen, die sie erleiden mussten, äußerst drastisch darstellten. Miltons Stärke ist nicht die Analyse historischer Dokumente, sondern die Darstellung der Quellen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Und immerhin: Die große Fülle der Originalzitate macht Miltons Buch wunderbar lebendig. Er versteht es, kaum bekannte historische Episoden in fesselnde Geschichtsprosa zu verwandeln. Eine Fähigkeit, die deutschsprachigen Sachbuchautoren leider allzu häufig abgeht.

    Giles Milton: "Weißes Gold. Die außergewöhnliche Geschichte von Thomas Pellow und das Schicksal weißer Sklaven in Afrika". Das Buch ist erschienen im Theiss Verlag, hat 288 Seiten und kostet 22 Euro 90, ISBN: 978-3-8062-2247-0.