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Verdi ohne Präzision und Kontext

Für Biografen ist der italienische Komponist Giuseppe Verdi kein leichtes Sujet, hüllte er sich doch oft in Schweigen. Der britische Journalist John Rosselli hat es trotzdem versucht. Seine Biografie "The Life of Verdi" ist nun erstmals auf Deutsch erschienen und enttäuscht durch Mangel an Präzision und geschichtlichem Kontext.

Von Norbert Ely | 20.05.2013
    Der italienische Komponist Giuseppe Verdi hat es seinen Biografen nicht leicht gemacht. Anders als sein kommunikationsfreudiger Kollege und Zeitgenosse Richard Wagner nutzte er jede Gelegenheit, sich in Schweigen zu hüllen. Das betraf insbesondere die persönlichen Dinge. Wenn er sich dennoch äußerte - vor allem auch in seinen Briefen -, ist Misstrauen angebracht. Verdi legte schon mal falsche Spuren. Er ist nicht wirklich dokumentenecht, und man darf seiner mystifizierenden Diskretion ebenso wenig leichtfertig Glauben schenken wie der geschäftigen Geschwätzigkeit Wagners.

    Gut möglich, dass die einzige adäquate Darstellung der in sich so widersprüchlichen und rational schwer zu fassenden Persönlichkeit des Giuseppe Verdi ein Roman wäre. Franz Werfels Versuch von 1924 verdient da bis heute Respekt. Die Imagination gibt bisweilen das bessere Mittel ab, die Komplexität eines Künstlers zu fassen, als dies eine noch so sorgfältige Dokumentation vermöchte.

    Als im November 2000, und damit rechtzeitig zum einhundertsten Todestag Verdis, im Rahmen der Monografien des Rowohlt-Verlages die so ungemein klug, umsichtig und zugleich konzis gefasste Biografie der deutschen Musikwissenschaftlerin Barbara Meier erschien, da war es vor allem auch die Sprache der Autorin, die dieses knappe Bändchen mit seinen rund 150 Seiten so erhellend machte und immer noch macht. Meiers Diktion ist offenkundig an literarischen Vorbildern geschult.

    Damit kam sie ihrem Sujet wesentlich näher als eine englische Verdi-Biografie, die beinahe zur gleichen Zeit publiziert wurde und die von einem prominenten britischen Journalisten verfasst worden war: John Rossellis "The Life of Verdi", verlegt bei Cambridge University Press. Nun, demnächst wird Verdi 200 Jahre alt, es winkte die Zweitverwertung, und so hat der Verlag C.H.Beck Rossellis Publikation kurzerhand in deutscher Übersetzung herausgebracht. Der Titel klingt nun eine Nummer größer: "Giuseppe Verdi. Genie der Oper. Eine Biographie". Preis: € 21,95 für 286 Seiten brutto.

    Um es kurz zu sagen: Das Buch belebt sicher das Geschäft. Sein Gegenstand aber bleibt genauso tot wie vor 112 Jahren. Zudem entwickeln die durchaus zahlreichen Abbildungen den Charme von gut gelungenen Fotokopien.

    Der naturalisierte Brite John oder Giovanni Rosselli entstammte einer hoch angesehenen Florentiner Familie und war für Jahrzehnte ein zweifellos bedeutender britischer Publizist, der lange Zeit dem "Guardian" verbunden war. Rossellis besondere Neigung galt der Musik und hier wiederum der Oper. Er starb Anfang 2001 im Alter von 73 Jahren.

    Man sollte also meinen: Hier wusste einer, worüber er schrieb. Im Vorwort bemerkt Rosselli vorsichtshalber, dieses Buch sei eine kurze, kritische Lebensbeschreibung, die auf den publizierten Quellen basiere; es liefere - so wörtlich - "keine neuen Fakten zu Verdis Leben", sondern solle den Komponisten in seinem geschichtlichen Kontext zeigen und so ein zuweilen neues Licht auf die Bedeutung seines Lebens und Werkes werfen.

    Und eben dies tut das Buch nicht. Dieser Autor trabt vielmehr munter auf den ausgetretenen Pfaden der Verdi-Literatur, kürzt hier und da ein bisschen ein und macht sich über den dabei entstehenden Mangel an Präzision weiter keine Gedanken.

    Ein erstes Beispiel: Zunächst einmal beschreibt Rosselli, gelegentlich unter Angaben der Quellen, relativ ausführlich Herkunft, Kindheit und Jugend Verdis. Das liest sich vorzüglich. Man wird dann darüber unterrichtet, dass der junge Giuseppe am Mailänder Konservatorium abgewiesen wurde und darauf hin bei Vincenzo Lavigna Privatunterricht nahm. An dieser Stelle aber wünschte man sich eine kurze Bemerkung, dass Verdi den Rat, dies zu tun, von Allessandro Rolla erhielt, einem bedeutenden Mailänder Musiker, der offenbar Verdis Talent bemerkt hatte. Über Rolla ließe sich einiges sagen.

    Ein zweites Beispiel: Verdis Verhältnis zum französischen Dichterfürsten Victor Hugo. Wenn einer schon im Vorwort schreibt, er wolle den Komponisten in seinem geschichtlichen Kontext beschreiben, warum geht er dann nicht der Frage nach, was Verdi wirklich an Victor Hugos Drama "Le roi s’amuse" faszinierte und ihn veranlasste, daraus seine Oper "Rigoletto" zu machen. Und welche Bedeutung hatte es für Verdi wie für dessen neue Oper, dass Hugo zunächst 1851 als Deputierter im französischen Parlament zusehends an politischem Einfluss gewann, dann aber nach Louis Napoléons Staatsstreich vom Dezember ’51 Frankreich als Staatsfeind verlassen musste?

    Und gleich zum nächsten Werk: zu "La Traviata", einer Oper nach dem Schauspiel "La Dame aux Camélias" von Alexandre Dumas fils. Warum nun der jüngere Dumas? Rosselli vermutet ein "Interesse am künstlerischen Realismus". Das klingt sehr akademisch. Vor allem hätte Verdi da vielleicht doch besser Murgers "Bohème" genommen. Dessen Mimi hustete sich auf der Bühne des Théâtre des Variétés schon 1849 zu Tode. Auch das Vorbild der Kameliendame, die Kurtisane Marie Duplessis, war an der Schwindsucht gestorben.

    Die "Kameliendame" kannte Verdi wahrscheinlich bereits in der Romanfassung von 1848. Dumas’ Schauspiel kam im Februar 1852 am Théâtre du Vaudeville heraus. Die Titelrolle wurde von der großen Eugénie Doche gespielt, einer der Löwinnen der Pariser Gesellschaft. In den folgenden Jahrzehnten galt die Kameliendame als Paraderolle der großen Tragödinnen, allen voran Sarah Bernhardt. Der folgte bald die Duse; die hustete noch expressiver und war einige Jahre mit Verdis letztem Librettisten Arrigo Boito liiert, bevor sie sich den Dichter Gabriele d’Annunzio an den Hals holte. Rosselli aber verweist auf die Garbo. Da sind wir dann unvermittelt im Tonfilm der 1930er-Jahre. Und "La Traviata"? Marcel Proust befand, dass durch Verdis "Traviata" die "Kameliendame" zum Kunstwerk geadelt sei.

    Ein ganzes Tableau an komplexen Zusammenhängen, über die man so gut wie nichts erfährt. Wenn man dann noch bedenkt, dass die große Liebe der Marie Duplessis nicht dem liebenswürdigen Autor Alexandre Dumas fils gegolten hatte, sondern keinem Geringeren als Franz Liszt, dann müssten dem Autor einer Verdi-Biografie doch der Kugelschreiber oder das Keyboard durchgehen! Aber Liszt kommt in Rossellis Buch überhaupt nicht vor, so wenig wie die Komponisten Mercadante, Cherubini und Spontini, Halévy, Gounod, Thomas oder Saint-Saëns. Und wenn schon weder die Bernhard noch die Duse erwähnt werden, dann darf man nicht hoffen, dass sich der Autor für die Pariser Stimmton-Konferenz von 1858/59 interessiert, die für Verdi ein ganz bedeutendes Ereignis war. Verdi im Kontext der Geschichte? Eher Verdi in einem nicht sonderlich gut sortierten Zettelkasten.

    Immerhin lässt Rosselli wenigstens ein paar Worte über Rossini, Donizetti, Bellini, Auber und Meyerbeer fallen. Aber auch die sind belanglos. Der übermächtige Giacomo Meyerbeer und seine Grand Opéra waren für Verdi Vorbild und Schrecknis zugleich. Darauf müsste man schon ein bisschen gründlicher und ausführlicher eingehen, auch mit mehr Kenntnis.

    Wagner lässt sich natürlich in einem Buch über Verdi nicht vermeiden. Doch wie viel Antwort auf Wagner findet sich im "Falstaff", Verdis letzter Oper? Ist die Fuge am Ende des "Falstaff" nicht doch eine ebenso heitere wie weise und kunstvolle Replik auf den "Parsifal" und dessen Erlösungsfantasien? "Tutto nel mondo è burla" - alles auf Erden ist Spaß - nein: nicht nur Spaß, sondern Chaos, irregulär.

    Das Chaos in dem vorliegenden Buch bereitet freilich nur bedingt Vergnügen. Lange Passagen lesen sich wie ein erweiterter, aber auch wieder fragmentarischer Opernführer. Und es zeigt sich auf Schritt und Tritt: Dieser Autor steckt nicht mittendrin in seinem Sujet; er hat es sich irgendwie angeeignet. Vieles ist smart formuliert, und wo es Rosselli an fundierter Kenntnis gebricht, redet er sich oft geschickt heraus. Doch bei alledem überwiegt ein trockener Ton, und man muss weiß Gott nichts Böses im Schilde führen, um dessen sehr bald satt zu sein.

    John Rosselli: "Giuseppe Verdi. Genie der Oper. Eine Biographie".
    Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Verlag C.H.Beck, München 2013, 286 Seiten, 21,95 Euro