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"Krankhafter Identitätskult"

Nach Einschätzung des französischen Philosophen André Glucksmann führt ein überzogener Identitätswahn zu Nationalismus und Rassismus. "Der Identitätskult kann zu blutigsten Ausschreitungen führen", sagte Glucksmann und nannte als Beispiel den Kosovo-Konflikt.

Moderation: Kersten Knipp | 19.06.2007
    Kersten Knipp: Herr Glucksmann, ich möchte das Gespräch beginnen mit einer Frage zu Ihrer vielfach gebrochenen oder, so könnte man es auch sagen, Ihrer sehr vielschichtigen Identität. In Ihrer Kindheit erlebten Sie ganz verschiedene Kulturen, nämlich die der deutschsprachigen Länder und die französische. Wie wirkte sich das auf Ihr Verständnis des Identitätsbegriffes aus?

    André Glucksmann: Als ich drei Jahre alt war, befand ich mich im von den Nazis besetzten Frankreich. Ich stamme aus einer Familie von Flüchtlingen, die aus Österreich kamen, aus einer Familie von Widerstandskämpfern und von Juden. Und das bedeutete, eine ganze Menge Dinge verbergen zu müssen. Ich hatte darum eine doppelte Identität, eine offizielle und eine verborgene.

    Die verborgene bezeichnete meinen richtigen Namen Glucksmann, und die offizielle eine Tarnnamen, Rivière. Ich glaube, diese Zeit hat mich sehr geprägt - allerdings nicht auf sonderlich tragische Art, denn im Alter von drei Jahren versteht man nicht allzu sehr, was um einen herum passiert. Vielmehr empfand ich es als eine Art Spiel, zwei Identitäten zu haben. Und ich glaube, das hat mich mein ganzes Leben stark beeinflusst, denn diese Erfahrung bescherte mir eine gewisse Leichtigkeit im Hinblick auf Wurzeln, Ursprünge. Dieses Thema zieht sich seitdem durch mein Leben.

    Als ich am 15. Oktober 1989 die Laudatio auf Václav Havel in der Frankfurter Paulskirche hielt, sagte ich, dass die Ostdeutschen zum ersten Mal ihre Heimat aufgegeben hatten. Über die tschechische Botschaft und entlang der ungarischen Grenze hatten sie ihre Heimat, ihr Vaterland, verlassen. Und das bedeutete einen sehr großen Schritt für sie. Denn die Vorstellung der Heimat hat in Deutschland eine ganz besondere Bedeutung.. Und mit einem Mal zeigten sie sich höchst modern, indem sie nicht mehr ihre Wurzeln suchten, sondern die Freiheit. Diese Erfahrung machte ich als kleines Kind, die Freiheit war für mich eine verlockende eine Möglichkeit trotz all der Schwierigkeiten jener Zeit.

    Knipp: Und so entwickelten Sie sich zu einem scharfen Kritiker dessen, was Sie als europäische Identitätsobsession bezeichnen.

    Glucksmann: Ja, das erstaunt mich. Aber wissen Sie, im 19. Jahrhundert war diese europäische Identitätsobsession noch viel stärker, auch in Frankreich. Man gab sich der Vorstellung hin, dass die Entwurzelten, die Menschen aus anderen Ländern, die Juden etwa, aber nicht nur sie, dass alle diese Menschen Parias, Außenseiter, Nutznießer der europäischen Errungenschaften seien. Das ist heute zu Teilen ja nicht viel anders. Aber im 20. Jahrhundert stellte ein Repräsentant des alten Frankreichs, General de Gaulle, fest, dass die Generationen von heute Generationen von Entwurzelten sind. Und er sagte auch, dass das kein Unglück sei. Und das stimmt.

    Nehmen Sie heute etwa eine Verkäufern in irgendeinem Supermarkt: Sie hat eine Menge ganz unterschiedliche Aufgaben gelernt, sie rechnet in Euro, nachdem sie es vorher in Francs getan hatte; und manchmal lernt sie fremde Sprachen. Auch sie ist also gründlich entwurzelt. So lebten ihre Eltern vielleicht noch auf dem Land - was durchaus wahrscheinlich ist, denn 1945 lebten 30 Prozent der französischen Bevölkerung noch auf dem Land. Und in nur 30 Jahren ist diese Zahl ungeheuer geschrumpft, so gibt es in Frankreich heute etwa nur noch drei Prozent Bauern.

    Ich meine darum, die Fähigkeit des typischen EU-Bürgers, Entwurzelungsprozesse durchzumachen, sich an die moderne Welt anzupassen, in der Lage zu sein, verschiedene Berufe auszuüben, seinen Lebensstil mehrmals im Leben zu ändern, all das ist doch eine beachtliche Leistung, aber doch keinesfalls eine Tragödie.

    Knipp: Sicher gibt es viele Menschen, die ein sehr modernes, komplexes Identitätsgefühl haben. Viele haben aber auch erhebliche Probleme damit. In Ihrem Buch erwähnen Sie den Fall eines jungen Maghrebiners, der verdächtig wurde, einen Polizisten getötet zu haben. Außerdem wollte er, so der Vorwurf, auch einen TGV; einen der französischen Schnellzüge entgleisen lassen. In Ihrem Buch kritisieren sie, wie viel Verständnis er in den Medien erhielt. Man trug zu seiner Entschuldigung vor, dass er entwurzelt sei.

    Glucksmann: Ja, die die wohlwollenden Zeitungen schrieben, dieser arme Junge sei ein Kind von Immigranten. Übrigens war er auf genau dieselbe Schule gegangen wie ich. Die Leute hatten Mitleid mit ihm. Aber ich meine: Nicht alle Immigrantenkinder lassen Züge entgleisen. Und mir scheint, diese Art der Identitätssuche ist zu einer wirklichen Krankheit, zu einer fixen Idee geworden. Es handelt sich um eine Verweigerung gegenüber der Wirklichkeit, um eine Fantasie, der zufolge man seiner Vergangenheit verpflichtet ist. Tatsächlich aber hat diese Vergangenheit niemals existiert. Es handelt sich um eine ernsthafte Krankheit, die von einem bestimmten Punkt an tödlich, mörderisch wirken kann.

    Auch Hitler pflegt ja einen Germanienkult, man denke etwa an die Wagner-Inszenierungen seiner Epoche, an die Damen mit den Hörnern auf ihrem Helm. Bei uns herrscht ein krankhafter Identitätskult, die Hingabe an eine Identität, die niemals jemand hatte, und die niemals existiert hat. Dieser Kult ist zu einem Kriegsgrund geworden. Die Serben im Kosovo, die eine absolute Minderheit sind, sie beanspruchten das Kosovo als Erde ihrer Vorfahren. Und sie waren fähig, die wirklichen Bewohner für diesen Anspruch zu töten. 80 Prozent der Kosovaren sind keine Serben. Aber die Serben töteten sie, weil sie die Erde ihrer Vorfahren beanspruchten.

    Wenn man in diesem Sinne fortfährt, wird man sehr schnell zu einem furchtbaren Nationalisten. Der Identitätskult kann zu blutigsten Ausschreitungen führen. Dieser Identitätswahn erzeugt Rassismus und extremen Nationalismus, keinen Patriotismus, sondern extremen Nationalismus. Anderswo existieren andere Vorstellungen vom Patriotismus. Patriot zu sein, das heißt in Frankreich etwa, fähig zu sein, sich zu verändern. Sich von seinen Wurzeln zu trennen, ist ein grundlegendes Charakteristikum der französischen Kultur.

    Knipp: Wie sehen Sie in dieser Hinsicht Ihre jüdischen Wurzeln?

    Glucksmann: Vielleicht kann man sagen, dass die Juden die ersten Europäer waren. Denn im 19. Jahrhundert waren sie es, die herumreisten, und die nicht nur dass Geld kreisen ließen, sondern auch die Ideen, wie etwas Siegmund Freud. Genauso auch die ästhetischen Fähigkeiten. Auf gewisse Weise waren sie die ersten modernen Europäer. Heute sind die europäischen Juden größtenteils tot. Aber die einzige Art der Europäer, ihre Zukunft zu gestalten, liegt darin, selbst kosmopolitisch zu werden, also auf eine ganz spezifische Art wie die Juden zu werden.

    Knipp: In Ihrem Buch beschreiben Sie ein Fest bei der Familie Rothschild unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Familie hatte zahlreiche Juden, auch sehr viele Kinder, vor dem Holocaust gerettet. Dennoch haben Sie, damals ein kleiner Junge, den Familienmitgliedern Ihren Schuh entgegen geschmissen. Warum?

    Glucksmann: Ich glaube nicht, dass wir irgendeine Substanz in uns tragen, die unsere Zukunft von Anfang an vorherbestimmt, dass alles durch die Eltern, die Herkunft, die Vorfahren vorherbestimmt ist. Im Gegenteil scheint mir, als gäbe es auf unserem Lebensweg verschiedene Knoten oder Gabelungen, die uns erlauben, ganz verschiedene Richtungen einzuschlagen. Damals, 1945, befand ich mich auf diesem Schloss, das kleinen jüdischen Kindern Obdach bot, Kindern, die furchtbare Dinge erlebt hatten, viel schrecklicher als die, die ich gesehen hatte. Und der Empfang dort sollte signalisieren, dass der Krieg vorbei war, dass man sich nun auf den Frieden einstellen konnte und man den Krieg vergessen sollte.

    Ich war aber damals ganz und gar nicht bereit, meine Kriegserlebnisse zu vergessen. Sie hatten mich ungeheuer geprägt, und weil ich damals schon auf der Erinnerung an diese Zeit bestand, warf ich meinen Schuh mitten in diesen Empfang. Es war also einer dieser Knotenpunkte im Leben. Ich hätte eine Art kleiner Chruschtschow werden können, der seinen Schuh wie ein Molotow-Cocktail in die Gesellschaft schmiss. Ich wäre sicher nicht der beste Anhänger der KPdSU gewesen, aber es war eine Haltung die man einnehmen konnte, auch ohne Chruschtschow zu heißen. Ich hätte auch ein Sänger sein können, der billige revolutionäre Phrasen von sich gibt, der ein T-Shirt von Che Guevara trägt und dergleichen. Ich hätte all dies werden können, wurde aber etwas ganz anderes. Ich wurde zu dem, der ich heute bin.

    Ich glaube, an diesem Tag wollte ich zum Ausdruck bringen, dass ich die vergangene fünf Jahre nicht vergessen konnte. Im Alter zwischen drei und sieben Jahren macht ein Kind entscheidende Erfahrungen, es lernt Lesen und Schreiben, es beobachtet die Nachbarn, es schaut auf die Erwachsenen. All dies ist für ein Kind sehr wichtig. Im Jahr 1945 so zu tun, als sei nichts geschehen, dass erschien mir damals wie eine Verstümmelung meiner Erlebnisse. Und als die Berliner Mauer fiel, und alle westlichen Politiker sagten, nun ist der Kalte Krieg vorüber, war das zwar richtig. Aber die Politiker sagten auch, jetzt wären all Kriege vorüber, es entstünde eine neue Weltordnung, es beginne das Ende der Geschichte, das Ende der gewaltsamen Geschichte. Es sei fortan vorbei mit dem Krieg, den Schlachten, all dem Blutvergießen. Da fühlte ich mich ein wenig wie damals, als ich meinen Schuh in die Gesellschaft schleuderte.

    Damit man nicht vergisst, damit die Vergangenheit nicht auslöscht, sondern im Gegenteil darüber nachdenkt, was genau geschah, damit es sich nicht wiederholt.

    Knipp: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Europa seine großen Kriege vergessen habe und inzwischen so eine Art politischen Nihilismus pflege. Was genau meinen Sie damit?

    Glucksmann: In Europa glaubt man, dass die Dinge sich letzten Endes arrangieren. Man glaubt, es reiche aus, freundlich zu sein, damit alle anderen es auch sind. Europa nimmt an, dass es selbst das beste Beispiel dafür gebe. Auch die EU nimmt dies von sich an und glaubt, dass alle anderen Regionen Europas schließlich folgen werden. Ich aber glaube an einen Satz von Ernst von Salomo. Er schrieb ihn 1920 nach dem Ersten Weltkrieg. Er schrieb: "Der Krieg ist vorbei, ja. Aber die Krieger sind noch da." Und genau das sieht man heute noch, in Afrika, in der muslimischen, aber auch in der slawischen Welt. Man sieht, dass die Krieger noch da sind. Die Krieger sind da, und sie befinden sich auf dem gesamten Planeten. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat es höchst komplizierte Kriege gegeben, blutige Kriege mit ethnischen Säuberungen, Angriffen auf die Zivilbevölkerung, und so weiter. Und das im Herzen Europa, im ehemaligen Jugoslawien. Das heißt, die Krieger sind noch da, und sie haben sich über die ganze Welt verteilt.

    Knipp: In Ihrem Buch kennzeichnen sie den politischen Nihilismus anhand einer kurzen Formel, einem Motto von nur zwei Worten: "Warum nicht?" Der Nihilismus, schreiben Sie, existiere in allen Lagern, sei es im linken, sei es im rechten, die Islamisten haben es auch übernommen. Worin besteht dieser Nihilismus, und wie lässt er sich auf diese kurze Formel bringen?

    Glucksmann: Als die Mauer fiel, war der Krieg vorbei, die Ideologien die den westlichen und den östlichen Block führten, brachen zusammen. Der Krieg also war vorbei, aber die Krieger sind noch da. Und diese Krieger werden nicht von großen Ideen angetrieben, auch wenn sie so tun: Mal geben sie sich religiös, mal extrem nationalistisch, mal rassistisch, und so weiter. Aber hauptsächlich werden diese Krieger von ihrer Wut angetrieben. Eine Wut, die man derzeit vor allem bei den menschlichen Bomben der Islamisten trifft,. Das Gleiche existiert aber auch zum Beispiel auf Sri Lanka - auch die dortigen Kämpfer bieten sich als menschliche Bomben an. Dergleichen existiert auch in anderen Formen des Terrorismus.

    Ein Terrorist - was ist das? Ein Terrorist ist für mich ein bewaffneter Mensch, der bewusst Zivilisten bedroht und tötet. Der moderne Terrorismus orientiert sich an keiner großen Zukunftsidee, wie es noch bei Hitler auf pervertierte Art der Fall war, oder beim Kommunismus. Der neue Terrorismus wird von der Vorstellung beherrscht, dass dem, der die Kalaschnikow in den Händen hält, alles erlaubt ist. Diese Terroristen glauben nicht, dass es ein absolutes Gutes gebe, oder dass das einzig existierende Gute der Religion entstamme. Darum geht es ihnen nicht. Das Grundlegende hinter all diesen Vorwänden, diesen ideologischen Alibis ist die genau entgegengesetzte Vorstellung, dass es das Böse nicht gibt. Und das ist etwas ganz anderes.

    Das Gute kann relativ sein, aber das Böse ist es nicht. Natürlich sind in einem Konzentrationslager die Quälereien und Torturen unerträgliche Übel. Aber die Weigerung dies anzuerkennen, zu behaupten, dass es Unmenschlichkeit, dass es Bösartigkeit nicht gebe, genau das ist das geistige Rüstzeuge des modernen Kriegers. Der Krieger glaubt, sich alles erlauben zu können, denn er glaubt, dass das Böse nicht existiert.

    Als mein Freund Hans-Christoph Buch sich in Liberia aufhielt, traf er einen Jungen, einen Kindersoldaten von zirka 13 Jahren mit einem Maschinengewehr auf der Schulter zusammen mit einigen Freunden, die ebenfalls Maschinenpistolen trugen. Er fragte den Jungen: Hast du keine Angst, dass du mit dem Gewehr Deine Mutter oder Deine Schwestern töten könntest? Und er Junge antwortete: "Why not? - "Warum nicht?" Genau diese Antwort habe ich auf dem Armband eines russischen Offiziers in Tschetschenien gesehen, wo ich mich undercover aufhielt. Aber wenn man Dollar in der Tasche hat, kann man sich sogar von der politischen Polizei chauffieren lassen, denn deren Beamte glauben an nichts, sie interessieren sich nur für die Dollar, dafür nehmen sie eine sogar in ihrem Fahrzeug mit. Und dieser Junge in Liberia, ein Kind von 14 Jahren, in Zivil gekleidet und sehr hübsch, hatte ein Armband, auf dem in Englisch geschrieben stand: "Get what you want" - "Nimm Dir, was du willst". Und genau das war die Moral der russischen Truppen und sie ist es bis heute in Tschetschenien.

    Die Offiziere haben keine Moral, sie sind nicht einmal sonderlich nationalistisch. Sie glauben einfach, dass es nicht sonderlich schlimm ist, Tschetschenen zu töten; auch nicht, ihre Kinder zu entführen und an reiche Familien weiterzuverkaufen. Und genau das ist der Nihilismus, der glaubt, dass Böses nicht existiert. Das ist die grundlegende These des Nihilismus. Für ihn gibt es das Böse nicht. Und darum kann man alles tun. Und wenn man die Macht hat, setzt man sie auch ein.


    André Glucksmann: Wut eines Kindes. Zorn eines Lebens
    Nagel & Kimche
    319 Seiten, 23,50 Euro