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Pestizide
Studie: Große Gefahr durch systemische Pflanzenschutzmittel

Als Mitverantwortliche für das Bienensterben sind sogenannte Neonicotinoide seit Längerem in der Kritik. In einer neuen Studie warnen Wissenschaftler: Diese Pflanzenschutzmittel bedrohen auch andere Organismen, darunter den Menschen selbst.

Von Silke Hahne | 25.06.2014
    Eine Honigwabe mit Arbeitsbienen
    Nicht nur die Honigbiene als Bestäuber soll laut Studie durch die systematischen Pestizide negativ beeinflusst werden. (picture-alliance/ ZB)
    Leise, bedrohliche Musik und eine eindringliche Stimme, die warnt: Weltweit verringern sich seit Jahren die Insektenpopulationen. In einem bunten Video mit vielen Grafiken fasst die Task Force on Systemic Pesticides die Ergebnisse ihrer Analyse zusammen: Mehr als 800 Studien haben die knapp 30 Wissenschaftler aus aller Welt ausgewertet: eine "weltweite integrierte Bewertung von Neonikotinoiden und Fipronil".
    Es sind systemische Pestizide, seit etwa 20 Jahren werden sie intensiv in der Landwirtschaft eingesetzt. Systemisch bedeutet, dass sie in die gesamte Pflanze eindringen, also in Blätter, Blüten und Früchte. Dass sich die Mittel auch auf Bestäuber wie zum Beispiel Honigbienen auswirken, haben Einzelstudien in den vergangenen Jahren bereits gezeigt - viel Forschung wurde ausgelöst durch das Bienensterben. In der großangelegten Analyse zeigten sich nun aber auch die negativen Wirkungen auf andere Organismen, so Dave Goulson, einer der Autoren der Studie:
    "Es ist deutlich geworden, dadurch dass wir die Böden, das Wasser und die Pflanzen verunreinigen, wird alles den Pestiziden ausgesetzt. Die Befunde weisen sehr deutlich darauf hin, dass die Effekte im Prinzip universell sind: Alle Insekten, die in Landwirtschaftsflächen leben, sind betroffen. Und nicht nur dort, auch in Bächen, Flüssen und Teichen und so weiter - was ziemlich beunruhigend ist."
    Goulson forscht seit 20 Jahren an Hummeln, er hat eine Professur an der Universität in Sussex inne. Wie viele Forscher in der Task Force hat er teilweise eigenes Geld oder Forschungsmittel der Universität für das Projekt eingesetzt. Gegründet wurde die Task Force vor fünf Jahren von dem Niederländer Martin Bijleveld von Lexmond. Mittlerweile kommt auch finanzielle Unterstützung von Nicht-Regierungsorganisationen und aus Forschungsfonds. Die Task Force berät zwei Kommissionen der Weltnaturschutzunion IUCN.
    Mögliche Auswirkung für den Menschen
    Mitglied der Arbeitsgruppe ist auch der deutsche Arzt Klaus Werner Wenzel. Der Humanmediziner hält es für möglich, dass sich Neonicotinoide auch negativ auf Menschen auswirken:
    "Was in Japan herausgekommen ist, weil die Japaner höhere Grenzdosen für Nahrung haben, höher als in Europa, und da ist eben raus gekommen, dass es Vergiftungen gibt. Allein von einem Krankenhaus wird beschrieben, dass 500 Patienten aufgenommen wurden, die Händezittern hatten, verwirrt waren. Und dann, nachdem die eine Weile da waren ist das abgeklungen zum größten Teil, aber bei einigen von ihnen ist doch eine Herzarhythmie übrig geblieben."
    Wenzel ist für ein komplettes Verbot der Neonicotinoide. Das sieht die Dünger- und Pflanzenschutzmittelindustrie naturgemäß anders. So kritisiert der Industrieverband Agrar die Forscher der Task Force als unredlich. Denn die ganze Studie wird erst in einigen Wochen veröffentlicht. Nach Meinung des Industrieverbands sind die vorgestellten Ergebnisse nur eine Lesart und keine fundierten Beweise. Für Bienen seien nicht Pflanzenschutzmittel das Problem, sondern Schädlinge und das mangelnde Nahrungsangebot durch den Anbau von Monokulturen. Außerdem verweist Martin May vom Verband auf das Zulassungsverfahren für Pestizide:
    "Es gibt neben pharmazeutischen Substanzen, glaube ich, kaum chemische Substanzen, die so eingehend untersucht worden sind wie Pflanzenschutzmittel. Bevor Sie ein Pflanzenschutzmittel auf dem Markt zulassen, haben Sie in der Regel zehn Jahre Forschungszeit und eine intensive Zulassungsphase. Pflanzenschutzmittel sind außerordentlich intensiv geprüfte Chemikalien."
    Neonicotinoide und die Europäische Union
    Die Zulassung für Wirkstoffe erteilt die Europäische Union. Federführend ist die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA - eigentlich eine als industriefreundlich bekannte Behörde. Bei den Neonicotinoiden hat aber auch die EFSA Anfang 2013 eine Reihe von Risiken für Bienen identifiziert. Die EU-Kommission erließ daraufhin ein zweijähriges Moratorium, das den Gebrauch der Mittel eingrenzt. Für Hummelforscher Goulson zu wenig:
    "Die EU sollte mindestens ihr Moratorium aufrechterhalten. Ich denke aber, wir müssen auch das große Ganze betrachten: Denn die Chemikalien werden ja weiter benutzt. Und wo sie nicht mehr genutzt werden können, wird den Landwirten von der agrochemischen Industrie geraten, einfach ein anderes Pestizid zu nutzen. Das löst aber nicht das große Problem, dass wir komplett von Pestiziden abhängig sind."
    Goulson fordert daher, dass die EU unabhängige Forschung finanziert und selbst die Landwirte im großen Stil zu alternativen Pflanzenschutzmitteln berät. Langfristig wünschen sich er und seine Kollegen sogar den globalen Ausstieg aus der Nutzung der systemischen Pestizide.