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Elite in der Einöde

Der Ruf der amerikanischen Harvard-Universität ist legendär. 75 Nobelpreisträger hat die älteste Hochschule der USA hervorgebracht, zahlreiche Präsidenten und sogar Filmstars. Zehntausende bewerben sich jedes Jahr um einen der teuren Studienplätze, doch nur etwa neun Prozent werden aufgenommen. Heute vor 370 Jahren wurde die Harvard-Universität als kleine Religionsschule in der britischen Kolonie Massachusetts gegründet.

Von Ralf Geißler | 28.10.2006
    Auf dem Campus der Harvard-Universität thront die Bronze-Statue eines jungen Mannes. Er sitzt in seinen Mantel gehüllt auf einem Stuhl. Die Beine lässig ausgestreckt. Ein dickes Buch auf dem rechten Oberschenkel. Die Inschrift auf dem Sockel lautet:

    " John Harvard, Gründer, 1638. "

    Die wenigen Worte enthalten gleich drei Lügen. Die Schwerstwiegende: Der Abgebildete ist überhaupt nicht John Harvard, sondern ein Student, der dem Bildhauer 1884 Modell gestanden hatte. Zum Zweiten war John Harvard mitnichten der Gründer der berühmten Universität, sondern nur ihr Namenspatron. Und zum Dritten entstand die Schule nicht 1638 - sondern zwei Jahre früher am 28. Oktober 1636.

    An jenem Tag beschloss die Verwaltung der britischen Kolonie in Massachusetts, 400 Pfund zu investieren, um - wie es hieß - eine Schule oder ein College in der Wildnis zu bauen. Die Wildnis - das war Newtown am Rande des heutigen Boston. Eine kleine Siedlung bescheidener Hütten an schlammigen Straßen - bewohnt von streng gläubigen Puritanern.

    Die Schule sollte Geistliche ausbilden, um die Missionierung der amerikanischen Ureinwohner zu beschleunigen. Doch der Anfang verlief unglücklich. Der erste Schulpräsident wurde nach wenigen Monaten wegen Misshandlung seiner Schüler entlassen und exkommuniziert. Als segensreich erwies sich hingegen eine großzügige Spende des englischen Theologen John Harvard. Er war 1637 nach Amerika emigriert, erkrankte aber schon ein Jahr später schwer an Tuberkulose. In seinem Testament vermachte Harvard der kleinen Schule 390 Pfund und seine gesamte Bibliothek. Aus Dankbarkeit gab man der Einrichtung 1639 seinen Namen.

    " Wenn ein Schüler Tullius oder andere klassische Lateiner zu lesen und die Wörter der griechischen Sprache perfekt zu beugen vermag, so gewährt ihm Eintritt in das College. "

    So lautete im 17. Jahrhundert der erste Absatz der Aufnahmebedingungen. Die Ausbildung war für alle Schüler gleich. Sie dauerte drei Jahre. Acht Stunden täglich. Mindestens.

    " Sei niemals zufrieden mit dir, wenn du nur das tust, was man dir aufgetragen hat, "

    riet ein Absolvent 1662 seinem soeben eingeschulten Neffen.

    " Wenn deine Klasse Logik oder Naturwissenschaften studiert, sollst du ein oder zwei freie Stunden zusätzlich für Sprachen, Rhetorik, Geschichte oder Mathematik verwenden. Und wenn sie den Text eines Schriftstellers rezitiert, lies daneben noch einige andere Texte zum selben Thema. "

    Von fröhlichem Studentenleben keine Spur. Rauchen war im puritanischen Harvard bis ins 18. Jahrhundert ebenso verboten wie das Kartenspiel, Alkohol und der Besuch von Gaststätten. Angesichts der strengen Regeln in der Einöde verwundert es kaum, dass es den meisten jungen Männern in Amerika nicht gefiel. Mit den Eltern in die neue Welt gekommen, kehrten viele nach der Ausbildung zurück nach England.

    Von Beginn an gehörten zu den Schülern auch Indianer. In Harvard wurde die erste Bibel in indianischer Sprache gedruckt. Die ausgebildeten Ureinwohner sollten mit der Heiligen Schrift zu ihren Stämmen zurückkehren und sie christianisieren.

    Mit den Jahren verlor sich der missionarische Eifer. 1782 wurde eine medizinische Fakultät eingerichtet. Die Vereinigten Staaten hatten sich gerade für unabhängig erklärt. Damit begann der Aufstieg des kleinen Colleges zu einer der bedeutendsten Universitäten der Welt. Schon um 1800 war es schick, seine Zöglinge nach Harvard zu senden, denn die Einrichtung hatte einen Prominenten hervorgebracht: John Adams. Zweiter Präsident der USA und, Mit-Autor der Verfassung .

    1879 durften erstmals auch Frauen in Harvard studieren - separiert von den Männern. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Geschlechtertrennung aufgehoben. Vereinzelt nahm man auch Schwarze auf. Daran erinnert heute noch der Harvard Blues. Nach dem Krieg baute die Einrichtung ihren Ruf als Elite-Schmiede aus. Sämtliche Absolventen sind gehalten, dem Vorbild John Harvards zu folgen, und großzügig zu spenden. Inzwischen beträgt das Stiftungsvermögen der Hochschule mehr als 25 Milliarden Dollar. Keine andere Universität hat so viel Geld.