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Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit

Walter Benjamin bemerkte 1927 in seiner Surrealismus-Kritik, die Geschichte des Traums bleibe noch zu schreiben. 75 Jahre nach diesem Votum scheint dies nun endlich zumindest unter einem zentralen Aspekt geschehen zu sein. Der Bochumer Germanist Peter-Andre Alt legt in diesem Jahr ein umfangreiches Buch vor, das sich unter dem Titel "Der Schlaf der Vernunft" mit dem komplexen Thema von Literatur und Traum in der Geschichte der Neuzeit befasst. Erst vor zwei Jahren ist von ihm eine 1400 Seiten lange Schiller-Biografie erschienen, die auf Grund ihrer Detailbesessenheit den damals erst 40-jährigen Literaturprofessor als einen äußerst akkuraten Wissenschaftler auswies. Auch bei seiner Monographie des Traums darf man erneut und zurecht erwarten, mit einer Fülle von Material konfrontiert zu werden, das durch souveräne Behandlung seinen Gegenstand, zu dem es Tausende von Originalbeiträgen und Einzeluntersuchungen gibt, klug geordnet und immer den Überblick behaltend präsentiert, eine - dies sei vorweg gesagt - bewundernswerte Leistung.

Martin Grzimek | 18.11.2002
    Die Geschichte des Traums, seine poetisch-literarische Darstellung und die Theorien seiner Deutung, beginnt für Peter-Andre Alt bei den Griechen und endet in unserer Gegenwart, umfasst also einen Zeitraum von 4000 Jahren, in denen sich die Menschen in den Epochen ihrer Entwicklungsgeschichte auf zum Teil verschiedenste Weise mit dem auseinandergesetzt haben, was sie alle gleichermaßen und über alle Differenzen hinweg verbindet, wenn sie schlafen: das Träumen. Oder, um es mit den berühmten Worten Heraklits zu sagen:

    Die Wachen haben alle eine einzige gemeinsame Welt, im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.

    Was aber ist nun eigentlich der Traum? Nach neuesten neurobiologischen Theorien, denen sich das kurze Schlusskapitel des Buches zuwendet, wird die Traumtätigkeit auf "informationstechnische Prozesse des Gehirns" zurückgeführt, die "an die digitale Verarbeitung von Daten im Speicher eines Computers" erinnern. Reizimpulse, chaotisch zusammengeführte Wahrnehmungssignale und Gedächtnisreste "im Netzwerk des Nervengefüges in der Gehirnrinde" - bei einem solch nüchternen Vokabular zur Beschreibung dessen, was geschieht, wenn wir träumen, bleiben alle uns eingeprägten Metaphern, was ein Traum sei, auf der Strecke. Der Traum als Spiegel oder Schatten der Seele, als blendendes Trugbild oder leeres Gaukelwerk der Imagination, der dämonische und prophetische Traum, das Leben als Traum und der Traum als Leben, der erotische Wunschtraum und der angstbesetzte Alptraum, der Tagtraum und die Nachtvision - das alles sind Umschreibungen und Stichworte zu einem Phänomen, das wir selbst erleben oder in der reichhaltigen Literatur seit der Antike nachlesen können. Eines der Ziele von Peter-Andre Alts Monographie ist es daher, unter kulturgeschichtlicher Perspektive das historische Material von Traumtheorien in den Dialog mit der Entwicklung der Traumdarstellung in der jeweiligen Literatur treten zu lassen. Und so lautet sein Programm:

    Für die Frühe Neuzeit ist die Rezeption spätantiker sowie mittelalterlicher Traumtraktate und Traumbücher zu untersuchen, die ihrerseits das literarische Wissen - etwa bei Shakespeare oder Gryphius - beeinflusst... Im Fall der Aufklärung rücken neben philosophischen Texten (...) von Descartes bis Kant (...) insbesondere anthropologische Abhandlungen mit überraschend originellen Befunden und Beobachtungen ins Zentrum. Die frühe Moderne, deren Ausgangspunkt die europäische Romantik bildet, zieht den Blick ebenfalls auf medizinisch-psychologische Quellenschriften, die prägende Bedeutung für das Wissen der Poesie und deren Verständnis seelischer Prozesse besitzen. Für die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts wiederum ist die Rolle der Psychoanalyse, die auch die Verdrängung und Vertreibung älterer Traumtheorien fördert, in ihrer ganzen Ambivalenz sichtbar zu machen: als produktiver Impuls, der die Literatur anregt, sich auf die Suche nach der geheimen Sprache der Seele zu begeben; als blockierendes System, das eine eigenständige Ästhetisierung des Traums unterbindet und Dichtung in einem geschlossenen Gefüge mechanischer Zuschreibungen einzusperren droht.

    Bei diesem Vorhaben eines Vergleichs der Entwicklung des jeweiligen Stands der theoretischen Auseinandersetzung einer Epoche mit dem Phänomen des Traums und seiner gleichzeitigen literarischen Verarbeitung in Poesie, Prosa oder auf dem Theater zeigt sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine gewisse Überlegenheit der Literatur über die Kenntnisse der Gelehrten und ihrer wissenschaftlichen Diskurse. Es scheint, als wisse die Literatur mehr über den Traum als die Wissenschaft, weil die dichterische Sprache die Zeichen der geträumten Bilder nachvollzieht. Der Dichter benutzt gewissermaßen bewusst Imagination und Phantasie, ähnlich wie ein Erwachender, der sich die Bilder seines Traumes selbst zusammenstellt und Elemente des Geträumten zur Dramatisierung seiner Einbildungskraft benutzt. Philosophen und Gelehrte hingegen zwängen den Traum in ihr Weltbild ein und benutzen ihn ihrerseits, um dessen Interpretation zu untermauern. So unterschieden die Griechen zwar schon den "natürlichen" von dem "göttlichen" Traum; letzterer aber war der einzige, dem sie als Orakel Bedeutung zusprachen.

    Im Mittelalter wurden gemäß des christlichen Ordnungsschemas Träume als Ausdruck teuflischer Kräfte verdammt, und dem rationalen Interesse der Aufklärung galten sie schlicht als Unvernunft und wurden daher mit Desinteresse bestraft. Erst in der Romantik wird das literarische Potential des Träumens erkannt und so weit intensiviert, dass es, wie für Novalis, nicht mehr eindeutig oder gar unwichtig war, ob man träumend wache oder wachend träume. Solche Beschreibungen mögen kursorisch und vertraut klingen, als seien sie einem enzyklopädischem Stichwort entnommen. Sie sollen aber auf keinen Fall darüber hinwegtäuschen, dass Alt in seiner Untersuchung in jedem Segment der Wissenschaftsgeschichte und der schöpferischen Darstellung der Auseinandersetzung des Dichters mit seinem Innenleben bis ins Detail geht und wie ein Seismograph die jeweiligen Erschütterungen der Seele aufzeichnet. Ein illustres Beispiel dafür ist etwa die im 16. Jahrhundert entworfene Typenlehre des Traums. Sie geht von der Vorstellung aus, natürliche würden Träume von Körpersäften ausgelöst, die in unterschiedlicher Geschwindigkeit zirkulieren. Danach unterscheidet dann Philipp Melanchthon vier Arten von Träumen, die er den menschlichen Temperamenten zuordnet.

    Choleriker, so führt er aus, träumen von Feuer und 'großen Brünsten', Melancholiker von 'dunklen Orten und Einöden', wo sie 'schreckliche Gespenste sehen', Phlegmatiker von Wasser, 'Schiffahrten' und Lebens Situationen, in denen sie 'gleichsam gefangen und gehindert' seien, Sanguiniker 'von froelichen Mahlzeiten, schoenen Taenzen' und 'dergleichen Dingen', die zur 'Freude und weltlichen Wollust dienen.'

    Für das darauffolgende Jahrhundert, das Zeitalter des Barock, weist Alt die enge Verbindung von Traum und Imagination nach, so dass die nächtliche Phantasie die Sprache der Poesie bekräftigt und damit der "Vorstellung vom Traum als Medium eines höheren Wissens" entspricht. Wieder führt Alt eine Fülle von Belegen und Beispielen auf, zitiert aus den Poetiken und medizinischen Schriften des 17. Jahrhunderts, befasst sich etwa mit der Lehre des englischen Arztes und Philosophen Robert Fludd, der "das menschliche Gedächtnis mit einem Theater verglich", so dass man zu dem Schluss kommen kann,

    dass "die großen elisabethanischen Dramen auf einer Bühne vorgeführt werden, deren Topographie die gelehrten Zeitgenossen an die Windungen des menschlichen Gehirns erinnert. Sie sind Inszenierungen der Einbildungskraft, Traum-Texte auf einem theatre imaginaire, das den Kammern des Kopfes gleicht: poetische Schädelbasislektionen.

    Wenn Peter-Andre Alt vom "Kombinationszauber der barocken Imagination" spricht, bedeutet dies zugleich, dass er diesen 'Zauber' Stück für Stück belegt und uns daran teilnehmen lässt, indem er behutsam zitiert und einfühlsam paraphrasiert, was aus den Originaltexten gewiss nur mit großer Anstrengung herauszulesen ist, auch wenn sie sich als wahre Fundgrube dafür erweisen, wie man mit der Präsentation damaliger Imaginationsvorstellungen umgegangen ist. So verweist Alt etwa auf den Jesuiten Athanasius Kircher, der in seinem Buch Physiologia von 1624 eine "Metaphernmaschine" beschreibt, die "durch ihre eigene Ablauflogik den Charakter eines imaginären Kopf-Theaters (besitzt), dessen automatisiertes Spiel nicht nur die Produktivität der Einbildungskraft, sondern auch die Gesetze des Traums imitiert.

    Es handelt sich um eine Walzenkonstruktion, auf der diverse Bildvorlagen angebracht waren, die, während man sie betätigte, mit Hilfe eines Spiegels an eine Hinterwand geworfen wurden. Der Betrachter, der auf diese Hinterwand schaute, sah dort nicht nur die verschiedenen Bildmotive, sondern auf einem weiter oben angebrachten Spiegel sein eigenes Gesicht. Bei öffentlichen Vorführungen betätigte ein Diener die Walze und sorgte dafür, dass die Bilder, die sich an der Wand zeigte, ständig wechselten. Kirchners Apparat imitiert mit primitiven Mitteln die Tätigkeit der Imagination, indem er eine Zuordnungsleistung suggeriert, die faktisch nicht erfolgt. An den Platz der Ähnlichkeit zwischen den Zeichen rückt der Zufall: das zum Gesicht des Betrachters tretende Bild wird durch die rein mechanische Bewegung der Walze, nicht aber nach Prinzipien der Analogie aufgespielt... Indem der Apparat Bilderfolgen nach dem Muster der Assoziation hervorbringt, wiederholt er die beziehungsstiftende Arbeit des Träumens.

    Das wahre Traum-Theater der Frühen Neuzeit schreibt sich sein Programm bereits in die Titel der Schauspiele. Shakespeares "Ein Sommemachtstraum" oder Calderons "Das Leben ein Traum" inszenieren Zukunfts- und Erinnerungsvisionen, zeigen eine "magische Realitätserfahrung" und die Gleichsetzung von Leben und Traum, wo allerdings unveränderte moralische und soziale Gesetze gelten, so dass aus romantischer Sicht Arthur Schopenhauer mit Blick auf Shakespeare und Calderön bemerken konnte:

    Das Leben und die Träume sind Blätter eines und des nämlichen Buches.

    Mehr als zwei Drittel von Peter-Andre Alts Monographie befassen sich mit dem Thema des Traums von der Zeit der Aufklärung bis zur Moderne, und hier wiederum überwiegt die Auseinandersetzung mit der Literatur gegenüber den Traumtheorien aus medizinischer oder psychologischer Sicht. Denn bis zu Sigmund Freuds 1900 erschienener "Traumdeutung", dem epochalen Wendepunkt in der Auffassung von der Bedeutung des Traums für die Psyche, werden seitens der aufgeklärten Wissenschaft nur Ansätze und erste Schritte vollzogen, die sich einer modernen Interpretation des Traums nahem. Von keiner maßgeblichen Theorie eingeengt und zugleich durch die praktische Vernunft befreit von Metaphysik und Mythos wird der Traum hingegen in der Literatur zu einem nicht mehr wegzudenkenden Topos. Alts genaue Analysen der Werke von Wieland, Lessing und Diderot, von Goethe und Schiller weisen nach, wie eng nun Traum, Leidenschaft, Poesie, und ästhetische Inspiration als "Voraussetzung der dichterischen Arbeit" zusammenkommen, auch wenn er bis zum Beginn der Romantik in seiner Realitätsfeme eine ambivalente Stellung behält, weil das Ich, so Peter-Andre Alt, "während des Traums ... in seine Umwelt (eingewoben bleibt)."

    Erst die Romantik hebt diese Einschränkung auf. Hier ist es vor allem Jean Paul, der "Meister der Traumwelt", der die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit einreißt, indem sich beide Bereiche in der Dichtung aufheben lassen.

    Es sind die narrativen Formen, die dem Vermögen des Traums, die Grenzen der Realität zu sprengen, am stärksten entsprechen... Wie der Traum führen sie ihre Helden in die Bezirke der Dämmerung, des Schattens und Scheins, wo die Pfade der Vernunft im Unwegsamen enden. Hier tut sich ... ein 'Augiasstall' der Triebe auf, in dem sich verbotene Gestalten tummeln, aber zugleich eine heitere Landschaft der Engel und Lichtwesen. Vom Traum zu erzählen, bedeutet für Jean Paul, diese beiden Ansichten gleichermaßen vor das Auge seiner Leser zu bringen.

    Auf diese Weise wird der Traum zu einem poetischen Modell, wie es die Romantik schließlich auf bravouröse Weise verwirklichen soll. m den Texten des Novalis, Tieck, Brentano und Kleist ist der Traum allgegenwärtig, als Inhalt, Programm und erzählerische Technik. Wie dies in den einzelnen Werken geschieht und auch wo die feinen Unterschiede bei den Autoren liegen, differenziert Peter-Andre Alt in minutiöser Kleinarbeit. Es ist eine Bereicherung, diese Kapitel zu lesen. In der konzentrierten Analyse auch der Werke der Spätromantiker, der literarischen Angstträume bei E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe, der rauschhaften Entgrenzungsträume bei Baudelaire und der Wunschphantasien in den Alice-im-Wunderland-Märchen bei Lewis Carroll zeigt Peter-Andre Alt eine Entwicklung der dichterischen Phantasie und narrativen Technik, die in gewisser Weise beinahe so gelesen werden könnte, als wäre Freuds "Traumdeutung" fast notwendig gewesen, um endlich theoretisch zu fassen, was die Literatur längst veranschaulicht hat. Dass sich nach der Rezeption der Begründung der Psychoanalyse durch Freud der literarische Zugriff zum Traum ändert und seine Naivität verliert, liegt auf der Hand.

    Der Traum ... erlangt [nun] den Charakter eines autonomen Erkenntnisobjekts. In diesem Sinne beurteilte Freud die eigene Leistung angemessen, als er 1914 ... erklärte, er werde vom Eindruck beherrscht, durch seine Traumlehre 'am Schlaf der Welt gerührt' zu haben.

    Mit einem luziden Kapitel über Freuds Traunilehre und, im Anschluss daran, einer eingehenden Auseinandersetzung über Kafkas Werk, in dem Sprache, Struktur und Inhalt des Traums wie nie zuvor ihren Ausdruck finden, beschließt Peter-Andre Alt seine Monographie über Traum und Literatur. Gestützt auf die Theorien Nikolas Luhmanns und Michel Foucaults gelingt es ihm, über die Epochen hinweg den Nachweis zu erbringen, wie eng die Sprache der Literatur und die "Bildersprache bzw. Dramaturgie des Traums ... als Wechselwirkung von unterschiedlichen Diskursformationen betrachtet" werden können. Peter-Andre Alt beschreibt eine Kulturgeschichte des Wissens am Phänomen der Irrationalität des Traums wie jemand, der die Entschlüsselung der Rätsel der erdabgewandten Seite des Mondes dafür benutzt, um uns das uns zugewandte Gesicht des uns umkreisenden Trabanten mit einer neuen Wahrnehmung zu vergegenwärtigen.