Dienstag, 30. April 2024

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Die Band Tümmer vor Tourauftakt
"Einfach mal Schlangenlinien durch die eigene Biografie fahren"

Jeder Lebensbereich ist heutzutage einem Verwertungsmechanismus unterworfen, selbst die Liebe - meint die Hamburger Band Trümmer. "Experimentierfreude oder Abenteuerlust existieren nicht mehr", klagt Sänger Paul Pötsch im DLF. Auf ihrer jetzt beginnenden Tour bringen sie ihre gesellschaftskritischen Texte auf die Bühne.

Paul Pötsch im Corso-Gespräch mit Sascha Ziehn | 08.10.2016
    Die Band Trümmer steht am 24. August 2013 im Rahmen des gamescom Festival in der Kölner Innenstadt auf der Bühne.
    "Dem Druck ausgesetzt, sehr schnell funktionieren zu müssen." Die Band Trümmer 2013 beim Gamescom-Festival in Köln (imago / Manngold)
    Sascha Ziehn: Was ist das eigentlich für Sie ein Ort, diese "Interzone"?
    Paul Pötsch: Ja, das ist einfach dieser Zustand zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, zwischen müde sein und wach sein, zwischen Kontrolle haben, Kontrolle verlieren, zwischen bewusst und unbewusst. Einfach dieses Zwischending, das man nicht genau einordnen kann. Und es geht eben darum, dass man diesen Zwischenzustand, diese Zwischenzustände nicht als etwas Bedrohliches empfindet, sondern als Möglichkeit, in der man neue Erkenntnisse über sich und das Leben gewinnt.
    Ziehn: Also: Die Interzone ist ein optimistischer Ort?
    Pötsch: Definitiv. Absolut.
    "Wir sind die Showband von der Interzone"
    Ziehn: Was passiert da so?
    Pötsch: Man verliert sich vollkommen und begegnet sich selbst dadurch neu. Und man begegnet auch den anderen Menschen neu. Man begegnet Leuten, die man sonst eher nicht treffen würde, denen man aus dem Weg gehen würde. Man trifft sich mit Fremden, und es werden geheime neue Allianzen geschmiedet, die bei Tageslicht sicherlich nicht stattfinden könnten.
    Ziehn: Trifft man da auch diese "Dandys im Nebel", über die Sie in einem Song singen?
    Pötsch: Das sind wir ja selber quasi, wir sind so die Showband von der Interzone, und wir spielen auch ein paar Songs für die Leute, die da zu Besuch kommen. Und die Dandys im Nebel sind wir selbst, die Bandmitglieder.
    Ziehn: Gibt es Dinge, die Sie Ihrer Generation vorwerfen?
    Pötsch: Vorwerfen finde ich ein schwieriges Wort. Das klingt so, als wüsste ich es besser, das klingt so predigerhaft, als würde ich mich über jemanden stellen. Im Grunde sind diese ganzen Texte, wenn es etwas Kritisches hat, auch immer eine Form von Selbstanalyse. Denn ich bin ja selbst auch Bestandteil meiner Generation und nehme mich da nicht raus. Ich habe mal irgendwann von Ai Wei Wei in einer Ausstellung in München diesen tollen Satz gelesen: "If you want to fight the system, you have to fight yourself". Und das finde ich sehr einleuchtend, moderne Gesellschaftskritik so zu betrachten. Das man sich eben auch selbst analysiert. Und insofern kann ich nicht meiner Generation etwas vorwerfen, sondern vielleicht sagen, dass wir, die 16- bis 30-Jährigen, heute einem extremen Druck ausgesetzt sind, sehr schnell funktionieren zu müssen, sehr schnell zu wissen: Okay, das ist mein Karriereplan, das habe ich nach der Schule vor, so reibungslos muss mein Lebenslauf aussehen. Und ich glaube, dass tolle Dinge wie Experimentierfreude oder Abenteuerlust oder einfach auch mal vom Weg abkommen und alles schlicht und ergreifend nicht mehr existieren, nicht mehr möglich sind, weil sie einem vorgeworfen werden. Und das finde ich sehr schade, und dagegen kann man sich auch wehren - und einfach mal Schlangenlinien durch die eigene Biografie fahren.
    Der Kapitalismus dringt bis in unser Innerstes vor
    Ziehn: Haben Sie irgendeine Idee, warum das genau so ist?
    Pötsch: Naja, ich glaube, das hat damit zu tun, dass einfach jeder Lebensbereich mittlerweile einem Verwertungsmechanismus unterworfen ist. Das geht ja bis ins Privatleben rein, dass sich alles lohnen muss. Man spricht auch davon, dass Beziehungen, Liebesbeziehungen, sich lohnen müssen und so weiter. Das ist ganz normal, einfach fortgeschrittener Kapitalismus, der mittlerweile ganz ganz feine Züge angenommen hat und bis in unser Innerstes vordringt, einfach.
    Ziehn: Hat das auch mit so Verboten zu tun? Weil: Ich denke immer, die arme junge Generation, die nicht mehr in so rock'n'rollige Bars gehen kann, wo geraucht wird, wo die Musik tierisch laut ist, wo getrunken wird, also: Dass man nicht mehr so ein halblegales Milieu betreten kann, sondern alles so reglementiert ist.
    Pötsch: Das greift natürlich auch noch da mit rein, so eine Art von Biopolitik. Das ist ja auch eine Art von Optimierung, dass wir unseren Körper nicht schädigen dürfen. Und dass uns die Entscheidung darüber ja auch abgenommen wird. Ich finde, dass Rauchverbot ist wahnsinnig interessant, darüber kann man sich stundenlang unterhalten: Warum entscheidet denn ein Staat plötzlich, wo geraucht werden darf und wo nicht? Gerade so als wären wir Bürger so kleine unmündige Ameisen, um die man sich mal kümmern muss, weil wir wissen ja gar nicht, was gut für uns ist. Das greift da auch noch mit rein, diese Idee von: Der Körper ist so eine kleine Arbeitsmaschine, die man rein halten muss, die ja nicht kaputt gehen darf. Also ich finde das schon alles seltsam, was da gerade passiert.
    Nicht über Hamburger Probleme und Hamburger Menschen singen
    Ziehn: War das eigentlich doof für Sie, als Ihnen eine Musikzeitschrift mal den Stempel "Hamburger Schule" aufgedrückt hat?
    Pötsch: Ja, doof. Einerseits ist es natürlich eine kleine Art von Ehre, weil was man damit meint, ist Gitarrenmusik, die nicht komplett bekloppt ist – und das machen wir ja irgendwie auch. Andererseits ist das ein Begriff aus den 90er – das ist ja mittlerweile fast schon so Musikarchäologie, von so was zu sprechen. Da habe ich meine Zuckertüte bekommen, als es das gab. Und die Protagonisten von damals haben sich auch schon dagegen gewehrt. Also ich finde, das ist nichts, was für uns zutreffend ist. Weil wir, glaube ich, ... ja, man kann das nicht mehr auf so was lokales begrenzen. Ich singe ja nicht über Hamburger Probleme und Hamburger Menschen. Ich versuche ja irgendwie einen anderen, größeren Anspruch da rein zu tragen, in die Musik.
    Ziehn: Aber finden Sie vielleicht schon, dass die Ideen, die damals so formuliert worden sind – also: Jochen Distelmeyer hat glaube ich mal gesagt, dass es ja mal dieses Versprechen gab, dass Musik ein bisschen mehr sein kann als nur "Love me tender, love me true" und so weiter.
    Pötsch: Das ist doch schon ein sehr komplexer Text, finde ich.
    "Musik macht mit Texten drin, die was wollen"
    Ziehn: Schlechtes Beispiel, okay: "Brother Louie Louie Louie" oder "Cherry Cherry Lady". Also: Dass Musik halt durchaus auch mehr sein kann, dass da andere Sachen verhandelt werden können als eben nur oberflächliche Sachen. Gilt das immer noch?
    Pötsch: Das gilt immer noch, auf jeden Fall. Ich glaube aber, dass sich das ein bisschen in den Schwanz gebissen hat im sogenannten Diskursrock, weil irgendwann der Text wichtiger war als die Musik. Das ist sehr interessant, dass man in Deutschland oftmals über die Texte spricht und dabei die Musik auf der Strecke bleibt. Was wir mit Trümmer probieren, ist sozusagen, das wieder zu versöhnen, dass man halt Musik macht mit Texten drin, die was wollen, dass beides wahrgenommen wird. Das ist so ein bisschen unsere Idee. Wir machen ja größtenteils einfach Popsongs mit Punkanleihen und mit Diskoanleihen. Das ist ein bisschen so der Wolf im Schafspelz, sozusagen. Man hört die Musik und kann die gut finden – und wenn man möchte, kann man sich auch noch auf die Texte einlassen, auf die Message, die damit gekickt wird. Aber ich fänd's unangenehm, den Text so in den Vordergrund zu stellen, die Leute zu beballern mit meinen Ansichten über alles. Ich finde das ein bisschen predigerhaft – und das finde ich ein bisschen unangenehm.
    Ziehn: Ich habe irgendwann mal die White Stripes live gesehen und fands das total beeindruckend, was die zu zweit für einen Krach machen auf der Bühne – das man da überhaupt nichts vermisst. Sie sind zu dritt bzw. zu viert mittlerweile – wie kriegt man so eine Dynamik hin?
    Pötsch: Ich glaube, Energie und Dynamik auf der Bühne hat immer was mit – wie soll ich sagen – Lust zu tun. Die White Stripes sind ja im Grunde auch eine Punkband. Die spielen Bluesrock auf eine punkige Art. Und wir spielen unsere Songs eben auch auf eine punkige Art. Und ich glaube, darum geht’s: Dass man in dem Moment, in dem man auf der Bühne ist, die eine Stunde, die man da drauf steht, dem total ausliefert und sich hingibt – und nicht nur brav auswändig gelernt seine Songs da runter spielt.
    "Im Hamburger Nachtleben ist eine Wunde entstanden"
    Ziehn: Wie ist das für die Konzerte, weil: "Interzone" ist ja ein Album, dass eine Geschichte erzählt, diese Reise durch die Nacht. Macht man das live dann auch oder bricht man das irgendwie auf?
    Pötsch: Nö, das ist schon auch genau so gedacht. Im Moment ist das sogar überspitzt so gedacht. Wir haben in Hamburg tatsächlich für vier Tage einen eigenen Club auf zwei Ebenen - unten gab es einen Konzertraum und eine Techno-Tanzfläche, oben gab es einen Barraum – eigens aufgebaut und eingerichtet. Und das war sehr interessant, weil in Hamburg ist ja der Golden Pudel Klub abgebrannt und dadurch ist eine erhebliche Lücke im Hamburger Nachtleben entstanden, eine Wunde, die wir so ein bisschen heilen lassen wollten. Und das wurde sehr gut angenommen, da gibt es ein krasses Bedürfnis nach neuen Läden und Clubs. Insofern: Das ist alles eins. Diese Platte, die Bars, die Geschichten, die auf der Platte erzählt werden. Das ist immer wieder diese Nacht und die Idee von: Ich gehe da rein, durch diese Tür – und komme als jemand anderes wieder heraus.
    Ziehn: Sie sind relativ offensiv mit dieser ganzen Hamburg-Gentrifizierungsproblematik umgegangen, haben da in einigen Fernsehsendungen auch drüber geredet, weil Ihnen auch selber die Wohnung gekündigt wurde, irgendwann vor zwei Jahren.
    Pötsch: Aber ich habe natürlich davon gesprochen, weil das ganz viele Leute in meinem Freundes- und Bekanntenkreis und auch außerhalb davon betrifft – und es ging nicht um mich, im Sinne von: Schaut her, wie schlecht es mir geht! Sondern es ging darum, eine Öffentlichkeit zu schaffen für dieses Thema. Und es ist ja in allen Großstädten ein Problem, dass man sich das Leben in der Innenstadt kaum noch leisten kann. Und das finde ich total interessant, wie sich das verändert – wie sich die Wahrnehmung der Stadt verändert. Früher hieß es immer: Stadtluft macht frei. Und das ist ja überhaupt nicht mehr so.
    "Eine Idee von Partizipation"
    Ziehn: Ich habe einen Artikel gelesen, in dem es um die "Tanzenden Häuser" geht, um die Neubebauung, wo die Esso-Hochhäuser waren. Und da redet irgendwer vom "St. Pauli-Code". Irgendeine Ahnung, was der "St. Pauli-Code" sein könnte?
    Pötsch: Der "St- Pauli-Code", das ist von Christoph Schäfer. Das ist ein Hamburger Künstler, der tatsächlich bei der Neubebauung der Esso-Hochhäuser sehr aktiv mitwirkt. Und der hat die "Initiative Esso-Hochhäuser" mit gegründet, mit vielen anderen Leuten zusammen. Der hat auch zum Beispiel neben dem Golden Pudel Club – das ist für Hamburg sehr wichtig, das muss ich kurz erklären: Neben dem Golden Pudel Club gibt es eine Parkfläche, die heißt Park Fiction. Da sollte ursprünglich ein Bürogebäudekomplex entstehen, der aber mit einer Anwohnerinitiative verhindert wurde. Und diese Initiative, die unter anderem von Christoph Schäfer mit gegründet wurde, ist in der Nachbarschaft rumgegangen und gefragt: Was wollt Ihr denn hier lieber haben als Bürogebäude, braucht Ihr denn Bürogebäude? Und die ganz simple Antwort von vielen Leuten damals war: Wir wollen einfach eine Freifläche haben, einfach eine grüne Fläche. Und die ist da jetzt entstanden und die wird im Sommer täglich von verschiedensten Leuten genutzt, da trifft sich ganz St. Pauli. Und Christoph Schäfer ist eben jetzt bei der Neubebauung der Esso-Hochhäuser auch wieder mit involviert. Und diese Losung: "Knack den St. Pauli-Code" ist diese Aufforderung an die Bewohner des Stadtteils, mitzuwirken. Da werden Fragebögen ausgefüllt von Leuten, die da wohnen – ich hab meinen auch ausgefüllt. Und die wurden ausgewertet und diese Auswertung fließt mit in den Architekturwettbewerb ein. Das ist so eine Idee von Partizipation.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.