Denn noch heute gibt es die beiden Rußland: das Imperium, auf unsicheren Beinen schwankend, und die Matjuschka, die sich betrunken im Straßengraben wälzt. Das erste habe ich auf Pressekonferenzen und in kriegerischen Auseinandersetzungen, bei Empfängen der "neuen Russen" und auf den Datschen der alten Stalinisten ausgekostet; das zweite hingegen bei ländlichen Festen, in den endlosen sibirischen Weiten, im Schlamm von Archangelsk, bei Hochzeiten, Totenmahlen und geheimen Bußzeremonien.
Ich habe aus beiden Rußlands geschöpft wie aus Eimern. Doch sein Bild wollte sich nicht zu einem Ganzen fügen.
Wilk beharrt auf seinem scheinbar entlegenen Standpunkt. Die Essenz von Russland ist für ihn Solowki, von wo aus er immer wieder in die Geschichte des Landes eintaucht. Wilk beginnt mit dem Leben der orthodoxen Mönche nebenan und gelangt über die Kolonisierung des Nordens durch die russische Kirche bis zu dem frühesten Dokument der russischen Literatur, dem Traktat des Ilarion, der im elften Jahrhundert erstmals jene religiös überhöhte Idee formulierte, nach der die Rus oder später Rußland eine geschichtliche Mission für die Welt zu erfüllen habe - eine bis heute wirkungsmächtige Idee, zum Beispiel im Werk von Aleksander Solschenizyn. Wilk bleibt auch in Solowki, wenn er das allumfassende System des sowjetischen GULAG erörtert und dessen Vorläufer betrachtet. Schließlich wurde das erste politische Gefängnis Russlands eben in den Verliesen des Klosters von Solowki eingerichtet, lange bevor dort ein sowjetisches Straflager entstand.
Wilk beschreibt seinen nördlichen Kosmos mit ungewöhnlichem Sinn fürs Detail - und erzeugt gleichwohl jene Spannung, die nötig ist, um über die Farben der Taiga, die alltäglichen Sorgen der verarmten Bewohner, die Sorglosigkeit korrupter Provinzpolitiker und das genaue Studium des Dampfbades nicht den Blick für das Ganze zu verlieren. Auch wenn Wilk die Landschaft des Nordens skizziert, zeichnen sich die Umrisse des gigantischen Koloß namens Rußland ab.
Die russische Wirklichkeit, vor allem im Norden, ist nämlich formlos: die Weite grenzenlos, der Morast grundlos, die Siedlungen gestaltlos; es ist so etwas wie ein "Erbsenpudding" (um einen Ausdruck Dostojewskis zu gebrauchen), aus dem verschiedene Dinge ragen: hier ein orthodoxes Kreuz, daneben ein Stück Stacheldraht, dort ein Samisches Hügelgrab und das Fragment eines menschlichen Schädels mit einem Loch von einer Kugel, an einer anderen Stelle ein Teil einer Rakete oder eines Unterseebootes. Mit einem Wort, die Landschaft des Nordens erinnert an ein Brett, auf dem verschiedene Generationen von "Bogomasen", schlechte Maler von Heiligenbildern, beflissen ihren Gott verewigt haben, indem sie die Farbe dick hinspachtelten, um die Bilder ihrer Vorgänger zu übermalen, und dann wurde das alles von einem sauren, giftigen, ätzenden Regen weggewaschen, aber nicht vollständig, denn Reste der Zeichnungen und der Farbe blieben zurück.
Seit Jahrhunderten schreiben europäische Autoren Reiseberichte aus Russland. Wilk greift diese Tradition auf - kritisch. Er beruft sich auf Joseph de Maistre, den französischen Gesandten und Philosophen der napoleonischen Zeit, der Russland in der Provinz entdeckte. Wilk stellt Klischees in Frage, die Russland stets das barbarische Halbasien zeigen, eine gegenüber Europa verspätete und deformierte Zivilisation, eine irrationale und daher naturgegebene Despotie. Da bleiben Seitenhiebe auf das nationale Selbstverständnis Polens nicht aus, wenn Wilk erwähnt, daß die russische Literatur doch ein paar Jahrhunderte älter sei als die polnische - oder wenn er sich der Lebensgeschichte des Kastratenmönchs und Theokraten Józef Jeleński widmet und dessen totalitäre Utopien als Vorform der kommunistischen Diktatur betrachtet. Jeleński, der von Katharina der Großen nach Solowki verbannt wurde, war schließlich ein Pole, ebenso wie Feliks Dzierżynski, der Begründer von Lenins Geheimpolizei.
Gleichwohl oder gerade deshalb ist Schwarzes Eis ein im besten Sinne polnisches Buch über Rußland. Die Empfindung für eine ferne Verbundenheit verschmilzt mit dem Respekt vor dem Andersartigen, dem scheinbar Exotischen. Wilk gelingt es, sein Bild von Russland aus der Geschichte und den geographischen Gegebenheiten zu entwickeln, ohne Klischees zu verfallen. In der alltäglichen Episode, in der Erwähnung auch geringfügiger Details entsteht ein Panorama, das zu betrachten mitunter anstrengt, aber keinesfalls ermüdet. In der ausgezeichneten Übersetzung von Martin Pollack hat "Schwarzes Eis" dem Genre der Dokumentarliteratur eine neue Facette gegeben.
Mariusz Wilk: Schwarzes Eis. Mein Russland
Zsolnay, 290 S., 21,50
Martin Sander