Wie sag ichs meinem Kinde, wie sag ichs meiner Frau? Der Lektor berät sich an einem denkwürdigen und weinseligen Abend mit seinem alten Freund Feuerstein, dem er schon damals seine Affaire anvertraut hat. Und der hat - in kühner Wittgenstein-Variation - einen schlagenden Ratschlag bereit: worüber man nicht reden kann, darüber muß man schreiben, um Tochter und Mutter schonend vor der drohenden Inzest-Gefahr zu warnen. Eine tolle Geschichte, findet der Freund nicht zu unrecht. Die Story sei so gut, die könne und müsse man verkaufen - an Bodo Kirchhoff zum Beispiel. "Kommt nicht in Frage! Trudi hat mal was von dem auf dem Nachttisch gehabt. Furchtbares Zeug. Incola glaub' ich, so was in der Art." Auch Thomas Bernhard kann den Job nicht übernehmen, denn leben muß man schon, um ihm gewachsen zu sein. Und auch Handke kommt nicht in Frage - "der kann keine Beziehungen." Käme bloß noch Lukas Domcik in Frage. "Der könnte das. Der würd' das vielleicht kaufen. Hat allerdings nie Geld."
Klaus Modick - und also ein Anagramm von Lukas Domcik - hat mit September Song den idealen Ferienroman geschrieben: geistreich und stilsicher wird - nicht ohne kolportagehafte, den Detektivroman verulkende Züge - eine bündige Geschichte erzählt, die geradezu provozierend gut ausgeht. Der im Geheimfach des Schreibtisches sorgsam verwahrte Brief der Geliebten mit dem wahrheitsträchtigen Namen Vera, in dem Kurt von seiner Vaterschaft erfährt, erweist sich als fake der Ehepartnerin. Sie hatte damals ihrerseits eine Affaire mit Feuerstein, von dem sie alles erfuhr, und sie wollte ihren Mann zum Geständnis animieren - auch hier schon nach der Maxime "worüber man nicht reden kann, darüber muß man schreiben". Nun vergibt man sich gegenseitig; die pater-semper-incertus-Zweifel im Hinblick auf die geliebte Tochter werden ausgeräumt; und man lebt und erlebt eine heitere Kontrafaktur zu Goethes Wahlverwandtschaften.
Natürlich ist Klaus Modick tollkühn, wenn er nicht nur als Konkurrent von Bernhard und Handke, sondern gar als Konkurrent zum Verfasser der Wahlverwandtschaften auftritt. Es wäre nicht besonders fair, Gegenwartsprosa mit Goethes bestem Buch und also mit dem besten deutschsprachigen Roman überhaupt zu vergleichen - wenn Modicks Roman, der auch auf Willkommen und Abschied und auf das Goethe-Motiv des "Überschreitens von Schwellen" anspielt, das nicht selbst täte. Und also stellen wir fest: Goethes Roman ist konkurrenzlos. Zu ihm verhält sich Modicks kecke und kokette Prosa wie Tucholskys Schloß Gripsholm zum Wilhelm Meister. So souverän komponiert wie Modicks Winterroman Vierundzwanzig Türen ist sein Nachsommerbuch nicht. Aber eines ist es immerhin: eine geistreiche, mit klugen Verweisen unprätenstiös spielende Feier der Daseinslust auch und gerade in den Jahren, die nach den besten kommen.
Dem Roman ist ein (für seine Verhältnisse rätselhaftes) Motto von Oscar Wilde vorangestellt: "Zu einer glücklichen Ehe gehören meistens mehr als zwei Personen." Zu einem guten Roman gehört meistens mehr als nur ein Autor.