Dienstag, 30. April 2024

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Österreich
Antisemitismus als Kontinuum

In Österreich hat es die politische Rechte seit jeher etwas leichter als in vielen anderen europäischen Ländern. Die Wiener Politikwissenschaftlerin Barbara Serloth legt in ihrem Buch "Von Opfern, Tätern und jenen dazwischen" eine erhellende Studie dazu vor, wie Österreich auch nach 1945 von antisemitischen Ressentiments geprägt wurde.

Von Günter Kaindlstorfer | 04.07.2016
    Der mit rotem Samt bedeckte Tisch, auf dem die Torarollen ausgebreitet werden, in der jüdischen Gemeinde in Deventer, Niederlande. Auf dem roten Samt leuchtet ein weißer Davidstern.
    "Nationalsozialismus wurde zum deutschen Problem", so Barbara Serloth. (imago/JOKER)
    Die "Stunde Null": Es gab sie in Österreich so wenig wie in Deutschland. Natürlich markierte der Sturz des Hitlerschen Terror-Regimes so etwas wie einen radikalen Neubeginn in jeder Hinsicht, zugleich aber gab es – unvermeidbar – Kontinuitäten. 700.000 NSDAP-Mitglieder und ihre Familien waren ja nicht von einem Tag auf den anderen verschwunden in den einstigen Alpen- und Donaugauen des Deutschen Reichs. Und auch das nationalsozialistische Gedankengut war es nicht. Die Wiener Politikwissenschaftlerin Barbara Serloth zeigt in ihrer Studie, wie rassistische Stereotype von Beginn an die Geschichte der zweiten österreichischen Republik mitprägten.
    "Antisemitische Ressentiments waren gelebter Alltag in Österreich nach 1945."
    Und das beileibe nicht nur unter ehemaligen Nationalsozialisten, sondern auch in den Funktionseliten der demokratischen Großparteien ÖVP und SPÖ. Leopold Kunschak zum Beispiel, christlich-sozialer Arbeiterführer und Mitbegründer der "Österreichischen Volkspartei", hat mit seinem rabiaten Judenhass nach 1945 lediglich aus taktischen Gründen hinter dem Berg gehalten, wie Barbara Serloth in ihrem Buch betont:
    "Kunschak war ein veritabler und bekennender Antisemit. Auch `45 bekannte er sich nachweisbarerweise noch zum Antisemitismus. In der Zweiten Republik nahm er sich sehr zurück, was in der politischen Konstellation und der Kommunikationslatenz begründet war. In der Ersten Republik, vor allem in seinen Reden im Nationalrat, ist sein radikaler Antisemitismus sehr deutlich nachweisbar, auch in seiner berühmten Rede in der Volkshalle des Wiener Rathauses 1919. Oder in seinem Gesetzesentwurf, wo er eine radikal getrennte Gesellschaft konstruieren wollte. Er wollte ein Apartheid-System."
    "Karl Renner war nicht frei von Antisemitismus"
    In der österreichischen Sozialdemokratie waren antisemitische Vorurteile weniger verbreitet, zumal die prominentesten Führer der Zwischenkriegs-Partei zum Großteil selbst aus jüdischen Familien stammten: der informelle Parteiführer Otto Bauer zum Beispiel, die austromarxistischen Theoretiker Max und Friedrich Adler oder auch der legendäre Chefredakteur der "Arbeiter-Zeitung", Friedrich Austerlitz. Die Repräsentanten des rechten Parteiflügels allerdings – die in der SPÖ nach 1945 das Sagen hatten – diese rechten Sozialdemokraten waren keineswegs frei von Aversionen gegen Juden. Barbara Serloth weist das anhand Karl Renners nach, der zwei Mal als Kanzler an der Wiege österreichischer Republiken stand, 1918 und 1945.
    "Renner war sicherlich kein radikaler Antisemit. Er war allerdings auch nicht frei von Antisemitismen. Ich hab’s als 'schlampiges Verhältnis' interpretiert. Das heißt: Er bemühte antisemitische Stereotype, wenn es gerade passte. Er war ein Gelegenheits-Antisemit, aber kein überzeugter. Ganz sicherlich nicht. Was man auch sagen musste: Er war auch einer, der zwischen der imaginären Gruppe der Juden und den 'echten' Österreichern unterschied."
    Das, meint Barbara Serloth, war eine problematische Kontinuität des österreichischen Selbstverständnisses: Juden wurden auch in den Anfangsjahren der Zweiten Republik nicht als organischer Teil der österreichischen Gesellschaft gesehen, sie galten als "außenstehend", als letztlich nicht dazugehörig.
    In ihrer materialreichen Studie weist Barbara Serloth nach, wie nachhaltig antisemitische Stereotype die ersten Jahre der zweiten österreichischen Republik geprägt haben. Im Zusammenhang damit sieht die Politikwissenschaftlerin auch den erfolgreichen Mythos von Österreich als "erstem Opfer Hitlers".
    Österreich sah sich immer als Opfer von Nazi-Deutschland
    "Nationalsozialismus wurde zum deutschen Problem. Was innenpolitisch natürlich auch bedeutete, dass es außer dem Opfer Österreich keine andere Opfergruppe geben durfte, sonst hätte ja der Opfermythos relativiert werden müssen. Dann hätte es Täterinnen und Täter gegeben. So gab es nur Österreich als Opfer von Nazi-Deutschland."
    Und das war, nimmt man alles nur in allem, doch recht praktisch, konnte man sich doch um allfällige Wiedergutmachungszahlungen erfolgreich drücken.
    "Es war das, was der ÖVP-Abgeordnete Kolb sehr treffend wiedergab, nämlich: 'Österreich hat nichts wiedergutzumachen, weil Österreich nichts verbrochen hat.'"
    Da passt es ins Bild, dass man in Nachkriegs-Österreich auch recht froh war, dass die jüdischen Emigranten, die man 1938 vertrieben hatte, dort blieben, wo sie waren: in Chicago, London und New York. Dort konnten sie den im Großen und Ganzen mediokren Figuren, die an Österreichs Universitäten, aber auch in Medien, Politik, Justiz und anderen gesellschaftlichen Bereichen in Spitzenpositionen kamen, als Konkurrenten nicht gefährlich werden.
    "Um die Rückholung der Emigranten hat man sich überhaupt nicht bemüht. Die österreichische Politik fühlte sich de facto nicht zuständig für jene, die aus dem Nationalsozialismus fliehen mussten."
    Barbara Serloths Studie über den Antisemitismus als Kontinuum der österreichischen Nachkriegspolitik richtet sich vor allem an ein akademisches Publikum. Normalleserinnen und –leser werden sich mit den vielen Fußnoten und dem insgesamt doch eher spröden Stil einigermaßen schwer tun.
    Ungeachtet dessen leistet Serloths Buch wertvolle Aufklärungsarbeit. Wer verstehen will, warum man der radikalen Rechten in Österreich heute um einiges enthusiastischer zujubelt als in anderen Ländern West- und Mitteleuropas, findet hier ebenso interessante wie letztlich beunruhigende Anknüpfungspunkte.
    Barbara Serloth: "Von Opfern, Tätern und jenen dazwischen – Wie Antisemitismus die Zweite Republik mitbegründete", Mandelbaum-Verlag, Wien, 302 Seiten, 24,90 Euro