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Mitten in Georgien

Am 9. Mai feiern Menschen in fast allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion das Ende des Zweiten Weltkriegs, schmücken sich die Veteranen mit Orden und treffen sich an den Denkmälern. Auch Josef Stalin wird vielerorts bis heute als Befreier Europas vom Faschismus verehrt. Eine Spurensuche in Stalins Heimatstadt Gori.

Von Thomas Franke | 09.05.2010
    Das Stalinmuseum steht mitten in Gori am Stalinboulevard: Ein großes helles Gebäude, am Dachfirst Zinnen, auf dem Eckturm weht die georgische Fahne: rote Kreuze auf weißem Grund. In der Eingangshalle werden Souvenirs verkauft: T-Shirts, Kaffeebecher und Anstecker - allesamt mit Stalins Konterfei, Weinflaschen mit Stalin auf dem Etikett. Die Verkäuferin trägt den grünen Uniformrock der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Dazu schwarze Schaftstiefel. Die Eintrittskarten kosten für Ausländer zehn Lari, etwa fünf Euro. Durch das Marmorfoyer geht es in den ersten Stock. Auf dem Treppenabsatz Stalin, etwas mehr als lebensgroß in weißen Stein gehauen. Vor der Ausstellung stempelt eine Aufseherin die Eintrittskarten. Einreise in die Sowjetunion.

    Hinter der Tür wartet die Museumsführerin.

    "Guten Tag. Es begrüßt Sie das Museum von Josif Wisarionowitsch Stalin in der alten Stadt Gori. Josef Stalin wird von den Forschern unterschiedlicher Länder unterschiedlich bewertet: als Führer, als Diktator und als Tyrann.
    Wir im Museum sehen ihn so:
    Stalin als Persönlichkeit, Stalin als Kriegsherr und Stalin als Psychologe.
    Wir beginnen die Führung mit den Worten Stalins: 'Der Mensch lebt nicht ewig. Auch ich werde sterben. Wie wird das Schicksal des Volkes und der Geschichte sein? Es gab viele Fehler. Aber auch Errungenschaften. Die Fehler werden natürlich mir zugeschrieben werden. Auf mein Grab wird man einen Haufen Dreck auftragen. Aber es wird der Tag kommen, an dem der Wind der Geschichte diesen Dreck unbarmherzig auseinander wehen wird.'
    Wir haben den Dreck schon auseinander geweht. Die Menschen aus Gori, die Einheimischen. Von unserer Regierung weiß ich das nicht. Aber wir hier lieben Stalin sehr. Ich liebe ihn auch sehr.
    Das ist die Geschichte. Wir müssen unsere Geschichte lieben."

    Dann legt Ana Sreseli los und zeigt Fotos, Fotos und wieder Fotos. Ein paar Schriftstücke, Stalins Schulbücher, Lampen, Pfeifen. Dann wieder Fotos, auch solche von anderen Kommunisten.

    In der Ausstellung fehlt alles, was die Museumsführerin gemeinsam mit Stalin als "Dreck" auf seinem Grab bezeichnet: die Deportationen und Säuberungen, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen; die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, in deren Folge Millionen Menschen verhungerten. Statt dessen der Sieg über den Faschismus und Stalin als Retter der Kirche. Der Massenmörder Stalin - in Gori sucht man ihn vergeblich.

    Die Führung geht draußen weiter. Vor dem Museum steht ein tempelartiger Bau aus gelbem Stein mit großen Säulen. Darin, winzig nahezu, eine Holzhütte. Hier kam der Massenmörder zur Welt.

    Ein Bett, ein Tisch, ein Schrank, zwei Stühle, alles angeblich noch original, selbst die Wolldecken und Gläser.

    "Die Geschichte ist heute schlecht geschrieben. Gegen Stalin. In den Schulbüchern, mit denen ich unterrichte. Ich kann ihn auf dreierlei Weise darstellen: als Diktator, als Tyrann und als Führer. Ich mache es immer so, wie es gerade gewünscht wird."

    In den langen Flur der Museumsverwaltung hat sich ein Schmetterling verirrt. Links und rechts braune Türen, abgenutzt, ein wenig schief.

    In einem der Büros sitzen zwei Stalinforscherinnen. Ketino Akhobadze und Mzia Naotschaschwili. Sie gucken Fußball. Russland spielt. Mzia Naotschaschwili schaut angestrengt durch die großen eckigen Gläser ihrer Brille:

    "Es gab eine Zeit, in der auch Europa Stalin geschätzt hat ... Was sollen wir tun? Bei uns gibt es auch Leute, die sagen, dass Stalin - wie haben Sie gesagt? - ein 'schlechter Mensch' war. Viele bei uns sagen das auch. Ich kann nicht sagen, dass er ein guter Mensch war. Er war ein Mensch. Und er hatte seine Schwächen. Aber er war genial."

    Im Büro der beiden Forscherinnen stehen ein Tisch mit Teegeschirr und Stühle. Im Regal Bücher über den Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion 1979, Werke über Stalin, über Leonid Breschnew, der 18 Jahre lang Staatschef der Sowjetunion war. Ein Foto zeigt zwei Frauen und einen Mann an einem Tisch. Sie trinken Tee und sehen zufrieden aus. Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass die Frauen auf dem Foto die beiden Stalinforscherinnen sind, erheblich jünger. Die gleiche Brillengestelle. Auch die Tapete auf dem Foto ist die gleiche, die auch heute noch im Büro hängt, ebenso das Regal, der Tisch, die Stühle. Über alles ist die Zeit hinweg gezogen. Im ganzen Museum ist kein Polster, kein Teppich, keine Tapete zu sehen, die nicht zerschlissen wäre. Ketino Akhobadze versteht die Kritik am Stalinmuseum nicht. In Frankreich gäbe es ja auch ein Napoleonmuseum, und auch für Picasso gäbe es Museen. Napoleon, Picasso und Stalin seien doch die drei wichtigsten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte.

    "Es ist doch ein Fakt, dass er eine sehr interessante Persönlichkeit war und dass die ganze Welt über ihn redet. Mit allen negativen Seiten. Es ist Fakt, dass er einen riesigen, sehr interessanten Staat geschaffen hat. Mit Fehlern, dem Jahr 1937, dem Krieg, das ist bekannt. Aber es ist ein Fakt. Punktum."

    Auch auf dem zentralen Platz in Gori steht ein riesiges Stalindenkmal. Während des Krieges im August 2008 schossen hier russische Soldaten um sich, zerstörten mehrere Geschäfte, Scheiben gingen zu Bruch. Menschen starben. Das Stalindenkmal haben sie in Ruhe gelassen.

    Ein Autokorso braust auf den Platz. Stoppt vor dem Denkmal. Eine Hochzeitsgesellschaft. Brautpaar und Eltern stellen sich vor dem Sockel auf.

    "Sie sehen doch, dass wir es eilig haben. Wir müssen noch hier hin und dorthin. Ich will das auf Video haben. Auch wenn das nicht Tradition ist. Mein Sohn hat mich auch gefragt: Wozu willst du das haben? Für mich!"

    Für uns ist Stalin ein Mann von Weltrang. Er ist einzigartig in Georgien und in der Welt. Das müssen Sie wissen.