Neu im Kino

Gefangen in Finsternis und Stille

Ariana Rivoire als Marie Heurtin fühlt zum ersten Mal Schneeflocken in einer Szene des Kinofilms "Die Sprache des Herzens".
Ariana Rivoire als Marie Heurtin fühlt zum ersten Mal Schneeflocken in einer Szene des Kinofilms "Die Sprache des Herzens". © dpa / picture alliance / Concorde Filmverleih
Von Bernd Sobolla · 30.12.2014
Im Kinofilm "Die Sprache des Herzens" erzählt der französische Regisseur Jean-Pierre Améris die Geschichte eines blindtauben Mädchens, das in einem Kloster lernen soll, sich zu verständigen. Ein wunderbarer Film über die Kraft des Optimismus.
Die 14-jährige Marie, gespielt von Ariana Rivoire, ist taub und blind. Ihr Vater bringt sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in das Institut Larnay, das in Zentral-Frankreich liegt. Er hofft, dass die Nonnen dort seiner Tochter helfen können. Doch gleich bei der ersten Begegnung flieht Marie auf einen Baum.
"Ich möchte wissen, wie sie darauf gekommen ist."
"Wenn man nicht aufpasst, klettert sie auf Bäume."
"Und wie bekommt man sie wieder runter?"
"Wir warten, bis sie von selbst runter kommt."
"Schwester Marguerite, wie geht es Ihnen heute Morgen?"
"Sehr gut, Mutter Oberin."
"Sie werden da rauf klettern und das junge Mädchen runter holen."
Schwester Marguerite reicht ihr die Hand, eine Berührung, die den Beginn einer außergewöhnlichen Beziehung darstellt.
"10. Mai: Heute bin ich einer Seele begegnet, einer sehr kleinen, sehr zerbrechlichen, einer eingesperrten Seele. Einer Seele, die durch die Gitter ihres Gefängnisses wie tausend Lichter strahlte."
Wie kann man mit ihr sprechen, ihr zuhören?
Und der Anfang einer sehr schwierigen Annäherung. Denn Marie agiert wie ein wildes Tier: Sie lässt sich weder waschen noch die Haare kämmen, weder saubere Sachen noch Schuhe anziehen.
"Wie verständigt man sich mit jemandem, der so gefangen ist in der Finsternis und der Stille? Wie kann man mit ihr sprechen, ihr zuhören?"
Der aggressive Charakter Maries ist keinesfalls eine Erfindung von Autor und Regisseur Jean-Pierre Améris. Vielmehr fand er diese Charakterzüge in den Texten, die Marie Huertin einst selbst schrieb.
"Ich war auch in dem Institut in der Nähe von Poitier, wo Marie lebte. Es ist noch immer eine Einrichtung für taube und blinde Kinder. Und diese Kinder tragen sehr viel Gewalt in sich. Für sie wirkt alles in der Welt bedrohlich. Sie müssen erst lernen, dass eine Berührung nicht aggressiv gemeint ist. Dass wenn man sie wäscht, sie nicht ertränken will. Am Anfang gibt es nur Misstrauen."
Misstrauen erfährt auch Schwester Marguerite. Nicht nur von Marie, um die sie sich hingebungsvoll kümmert, sondern ebenso von der Mutter Oberin, die Marguerites Einsatz für überzogen, ja sinnlos hält.
"Vergeben Sie mir meine Hartnäckigkeit, aber jemand muss dieses Mädchen doch aus ihrem Gefängnis herausholen und ihr das Sprechen beibringen."
"Und wie wollen Sie das anstellen?"
"Mit Zeichensprache."
"Aber sie ist blind."
"Ich schreibe die Zeichen in ihre Hand."
"Sie ist von Geburt an taub und blind. Vermutlich hat ihre Intelligenz darunter stark gelitten."
"Aber wenn ihre Intelligenz noch intakt ist, dann leidet sie furchtbar unter diesem Eingesperrt sein."
Da Ariana Rivoire, die die Marie spielt, wirklich taub ist, war für Isabelle Carré die Kommunikation die größte Herausforderung, sowohl vor der Kamera als auch bei den Proben:
"Es gab zwei faszinierende Aspekte: Der erste war die Gebärdensprache, die ich wirklich lernen wollte. Denn ich wollte direkt mit Ariana kommunizieren. Ich habe nicht nur meinen Teil auswendig gelernt, sondern war in einem gewissen Sinne zweisprachig. Es gab keine Übersetzerin mehr. Das war mir wichtig. Wenn man eine so starke Beziehung ausdrücken will, in der sich zwei Menschen so verbinden, dann musste ich die Gebärdensprache lernen. Und der zweite Aspekt war, diese Art Mutter zu spielen. Als ich das Drehbuch bekam, war ich nämlich gerade Mutter geworden, und es hat mich sehr gerührt, wie diese Frau, die keine Kinder haben darf, weil sie Nonne ist, wie ihr plötzlich dieses Mädchen vom Himmel fällt, wie ein Geschenk. Und wie sie plötzlich die Mutterliebe entdeckt."
"Die Sprache des Herzens" wirkt auf den ersten Blick wie ein klassischer Film über Bildungsideale. Wobei große Hindernisse überwunden werden müssen.
"Das ist dein Messer, und das ist das Zeichen dafür: Messer! Messer! Messer! Messer! Warte! Gib es mir! Na, los! Ein Messer."
… ehe auch nur ein kleiner, aber doch entscheidender, verheißungsvoller Schritt geschieht.
"Ja! Ja! Ja! Messer! - Das ist es! Das ist es! Messer!"
Platonische Liebe zwischen zwei Frauen
Der Weg bis dahin – und darüber hinaus – wird von Isabelle Carré und Ariana Rivoire großartig gespielt: ein Balanceakt zwischen Angst und der Überzeugung, helfen zu können, zwischen Wutausbruch und der Bereitschaft immer wieder Mut zuzusprechen. Das Ganze vor dem Hintergrund häufiger Rückschläge.
Der stärkste Aspekt des Films ist die platonische Liebe zwischen den beiden Frauen, die erst richtig sichtbar wird, wenn Marguerite ihre Lungenkrankheit nicht länger verdrängen kann und sie allmählich mit Marie die Rollen tauscht. Jean-Pierre Améris ist ein wunderbarer Film gelungen, mit nur wenigen Dialogen - lebensbejahend und voller Optimismus trotz aller widrigen Umstände. Vielleicht weil er sich schon immer von Menschen angezogen fühlt, die mit körperlichen und psychischen Handycaps kämpfen.
"Das hängt viel mit meiner Empathie zusammen. Ich stelle gerne Leute, die am Rand der Gesellschaft stehen, ins Zentrum meiner Filme, damit die Zuschauer ihre Angst verlieren. Das war auch bei 'Die Anonymen Romantiker' so, der von schüchterne Leute handelt, denn ich hatte ähnliche Probleme. Mit all diesen Menschen kann ich mich identifizieren."