Dienstag, 30. April 2024

Archiv

Methoden und Traditionen
Fortschritt als Versprechen

Schlimmer als der Untergang der Welt ist eine Welt, in der es keinen Fortschritt mehr gibt. Fortschritt war für die Menschen immer schon eine zweischneidige Angelegenheit.

Von Markus Metz und Georg Seeßlen | 04.02.2018
    Australien: Eine Straße in der Prärie - scheinbar endlos
    Der Highway als Synonym für ein verheißungsvolles Morgen (picture alliance / dpa / Hinrich Bäsemann)
    Fortschritt bedeutete Verbesserungen, Verschönerungen, Erleichterungen, sogar Erlösungen, aber zugleich war Fortschritt auch eine Drohung. Wie leicht ist es doch, vom Fortschritt abgehängt zu werden, mit dem Fortschritt nicht Schritt halten zu können. Im Fortschritt ist es immer nur ein kleiner Schritt vom großen Versprechen zur großen Kränkung. Wie ist diese Fortschrittsidee entstanden? Und wie konnte es geschehen, dass sich dieser ideologische Begriff immer mehr vom philosophischen Begriff des Werdens entfernte, bis er schließlich in unserer Gegenwart das exakte Gegenteil meint: Das Werden der Menschen und der Menschlichkeit behindert den Fortschritt.

    "Fortschritt und Werden. Handelt es sich um zwei verschiedene Dinge, oder um verschiedene Aspekte ein und desselben Begriffs? Der Fortschritt ist eine Ideologie, das Werden ist eine philosophische Konzeption. Der 'Fortschritt' hängt von einer bestimmten Mentalität ab, in deren Konstitution gewisse historisch determinierte kulturelle Elemente eingehen; das 'Werden' ist ein philosophischer Begriff, bei dem der 'Fortschritt' abwesend sein kann. Bei der Fortschrittsidee wird die Möglichkeit einer quantitativen und qualitativen Messung unterstellt: mehr und besser. Wie ist die Fortschrittsidee entstanden? Stellt diese Entstehung eine grundlegende Kulturtatsache dar, die geeignet ist, Epoche zu machen?" Antonio Gramsci.
    Wie die Menschen zum Fortschritt kamen und wie der Fortschritt zu den Menschen kam
    Nach der Vertreibung aus dem Paradies - über die Gründe dafür sind wir uns noch nicht recht einig - musste der Mensch hart arbeiten. Und auch die Geschichte von Mord und Totschlag begann sehr rasch. Jedenfalls war diesem Menschen am Beginn seiner Geschichte eines klar: So, wie es ist, ist es nicht gut.
    Es kann nur, nein es muss besser werden. Und zwar mit einem mythischen Ziel, so oder so in das Paradies zurückzukehren. Oder mit einem pragmatischen Ziel, es sich und dem Himmel schon zu zeigen, dass man auch ohne Paradies gut zurechtkommt.
    Jedenfalls wurden Arbeit, Fantasie, Gewalt und Schmerzen in den Dienst dieser einen Idee gestellt: dass es besser wird. Es dauerte eine Zeit, bis man dafür einen verbindlichen Begriff entwickelt hatte, genauer gesagt bis in die Zeit der Stoiker, um 300 vor unserer Zeitrechnung, als man von "prokope" zu sprechen begann.
    Was in der römischen Übernahme dann zu "progressus" oder "progressio" wurde. Das römische Imperium war wohl die erste Kultur, die im innersten Kern vom Fortschrittsgedanken geprägt war, und das in einer radikalen Einheit von Technik, Kultur, Militär, Ökonomie und Philosophie. Und für Rom war es offenbar vollkommen klar, dass es sich um einen historischen, offenen und nicht abzuschließenden Vorgang handelte.
    "Denn nichts ist, wenn es erfunden wird, zugleich auch vollendet." Marcus Tullius Cicero.
    Zusammenhang von Fortschritt und Arbeit
    Wenn man will, kann man diese Aussage als Begründung einer materialistischen, aber auch einer kritisch-rationalen Fortschrittsidee ansehen. Wenn Cicero recht hatte, geht es nicht allein um Innovation, schon gar nicht um ihrer selbst willen, sondern immer auch um die Weiterbildung, möglicherweise auch um Revision. Und davon wird uns etwas in die Moderne hinein begleiten, was noch im Mittelalter eher vernachlässigbar schien, nämlich der Zusammenhang von Fortschritt und Arbeit.
    Der römische Staatsmann, Philosoph und Rhetoriker Marcus Tullius Cicero in einer Porträtbüste.
    Der römische Staatsmann, Philosoph und Rhetoriker Marcus Tullius Cicero in einer Porträtbüste. (picture alliance / dpa / Röhnert)
    Fortschritt entsteht durch Arbeit und erzeugt zugleich Arbeit. Der Sinn der Arbeit liegt im persönlichen, im gesellschaftlichen, vielleicht sogar im kosmischen Fortschritt. Und gleichzeitig gibt es kein anderes Gebiet, vielleicht abgesehen von der Kriegsführung, das sich so sehr nach Fortschritt sehnte wie die Arbeit. Fortschritt hieß und heißt immer noch, dem Menschen die schwere Last der Arbeit abzunehmen, um ihn für andere, bedeutsamere Dinge frei zu machen.
    Allerdings konnte nie ein Einvernehmen darüber erzielt werden, was diese bedeutsameren Dinge seien, die jedenfalls selten etwas mit Fortschritt, mehr mit Picknickmachen, Faulenzen und Fernsehen zu tun hatten. Daher hielt sich das eigentlich recht menschenfreundliche Ideogramm vom Fortschritt als etwas, das im Wesentlichen aus der menschlichen Bequemlichkeit stammt.
    "Ohne Faulheit kein Fortschritt! Weil der Mensch zu faul war, zu rudern, erfand er das Dampfschiff. Weil er zu faul war, zu Fuß zu gehen, erfand er das Auto. Weil er zu faul war, abends die Augen zuzumachen, erfand er das Fernsehen." Manfred Hausmann.
    Schön wäre eine solche Gemächlichkeit, die den Menschen am Ende seiner Fortschrittsbemühungen wenn schon nicht ins Paradies, so doch wenigstens in eine Art technisch-soziales Schlaraffenland gebracht hätte. Nicht nur würde Fortschritt bedeuten, dass für alle Bedürfnisse gesorgt wird, alle Probleme gelöst und alle Bedrohungen abgeschafft werden; er würde die Menschen schließlich auch von aller Schuld, Verantwortung und Verpflichtung befreien. Mittlerweile hätten wir schon fortschrittliche Technologien, die dem Menschen auch das Fühlen, das Denken und sogar das Sprechen abnehmen.
    Doch allein die Tatsache, dass ein Mensch dem anderen, ein Land dem anderen, eine Klasse der anderen, ein Geschlecht dem anderen die Errungenschaften des Fortschritts nicht gönnt, spricht gegen die Lösung aller Probleme für alle.
    Und nicht allein Bequemlichkeit, sondern Neid, Hass, Gier, Angst und Verachtung verlangen nach Fortschritt. Und mit ihnen eine eingebaute Dynamik. Für den Fortschritt gibt es kein "genug". Er löst ein Problem, indem er ein neues schafft. Er hilft auf der einen Seite, indem er auf der anderen Seite schadet. Der Fortschritt kann nicht schaffen, ohne zu zerstören, sagen die Pessimisten. Und die Optimisten halten dagegen: Der Fortschritt kann nicht zerstören, ohne auch zu schaffen.
    Der Soziologie-Professor Theodor Adorno am 28.05.1968 während eines Vortrags im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main.
    Der Soziologe Theodor W. Adorno (dpa/ picture-alliance / Manfred Rehm)
    "Es wird mit der Intention auf Fortschritt nicht behauptet, dass man heute besser komponieren könnte als zur Zeit Beethovens, so wenig man vertreten wird, die gesellschaftlichen Verhältnisse seien im letzten Jahrhundert, als einem Zeitalter wenigstens relativ wachsender Verelendung, besser geworden. Den Schauplatz des Fortschritts in der Kunst liefern nicht einzelne Kunstwerke, sondern ihr Material." Theodor W. Adorno
    Wie der Fortschritt praktiziert wird
    Der Untergang des römischen Imperiums dient in der Geschichte und im politischen Diskurs immer wieder als Beispiel dafür, wie ein fortschrittliches System an den eigenen Widersprüchen zugrunde gehen kann oder vielleicht sogar muss. Auf jeden Fall ging mit Rom wohl auch eine Einheit des Fortschrittsgedankens unter. Das Mittelalter war weder so finster, wie man es ihm nachsagt, noch dem Fortschritt abhold. Nur ließen sich technischer, geistiger, ökonomischer, politischer, wissenschaftlicher und ästhetischer Fortschritt nicht mehr in eine solche konsistente Idee bringen. Und weder der weltliche Erfolg noch die göttliche Gnade ließen sich in der Kategorie des Fortschritts ausdrücken. Erst mit der Verbürgerlichung der Welt, die etliche Jahrhunderte in Anspruch nahm, wurde die Kategorie Fortschritt wieder zur treibenden Kraft.
    Der freie Bürger blickt in die Zukunft. Sie kann nur besser sein als die Gegenwart und die ist besser als die Vergangenheit. Alle Wünsche werden erfüllt, alle Probleme gelöst. Der freie Bürger, die freie Bürgerin - sie blicken nicht nur in die Zukunft. Sie glauben an sie.
    Die Götter haben von Fortschritt eigentlich nichts gesagt, sieht man einmal von Forderungen ab, wie die, sich die Erde untertan zu machen oder die Ungläubigen zu missionieren oder zu vernichten. Je weniger der Bürger an Gott glauben konnte, desto mehr musste er an den Fortschritt glauben.
    Genauer gesagt verdoppelt sich der Glaube im Bürgertum. Man muss an Gott und an den Fortschritt glauben. Und das eine muss sich dem anderen anpassen, sonst wird das nichts. Diese Einheit von Religion und Fortschritt entdeckte der Soziologe Max Weber als Ursprung des Kapitalismus im Protestantismus. Aber beides entleerte sich auch aneinander, wurde abstrakt, tot. Religion verengte sich auf moralisches Gebot und leere Form. Fortschritt verengte sich auf das Anwachsen von technischem Wissen und das Wachstum der Wirtschaft.
    Der Soziologe Max Weber
    Der Soziologe Max Weber (imago / ZUMA / Keystone)
    Lange Zeit war die Fortschrittlichkeit des Bürgertums, könnte man sagen, im Verborgenen gediehen. Fortschritt war eine Geheimwaffe, bevor sie im 18. Jahrhundert zur Waffe wurde. Waffe der Revolution, der Aufklärung und Bildung, die ihren Anspruch an der Macht bekräftigten. Dann aber, mit der Macht eines neuen Empire, unter Napoleon und den seinen, wurde der Fortschritt zuerst zu einer neuen Form der Staatsreligion, und dann, als der Citoyen sich wieder in den Bourgeois verwandelte, zur Grundlage einer neuen Ökonomie.
    Die Industrialisierung stand ganz im Zeichen des Fortschritts und sie ist uns auch so im Gedächtnis geblieben. Dabei bedeutete sie für große Teile der Bevölkerung nichts anderes als Rückschritt, zum Teil auf drastische Weise. Die neue Klasse, das Proletariat, wurde verdammt, den Fortschritt zu erarbeiten, ohne an ihm teilzuhaben - außer in der Form von Elend. In der schlimmsten Zeit des frühen Kapitalismus war Fortschritt für die einen, was Rückschritt für die anderen war. Und umgekehrt. Die Folge war ein jahrhundertelanger Kampf zwischen jenen, die sich die Früchte des Fortschritts aneigneten, und denen, die davon nichts hatten als Plage.
    Verschiedene Methoden und Traditionen
    Fortschritt, so scheint es, ist in unserer Welt ein Selbstläufer. Nicht einmal wenn man es mehrheitlich wollte, könnte man ihn aufhalten. Fortschritt muss auch sein, wenn er Angst macht. Daher geht es in den modernen Gesellschaften nicht allein um den Fortschritt an sich, sondern vor allem um eine Verteilung. Dazu gibt es offenbar verschiedene Methoden und Traditionen.
    Die hierarchische Organisation:
    Die Eliten organisieren und verwalten den Fortschritt, nutzen Privilegien und gewähren dem Volk, wenn sie wollen, einen Anteil. Ganze Gesellschaften spalten sich auf in einen fortschrittlichen und einen rückständigen Teil, wobei der eine Teil den anderen ziemlich gnadenlos auszubeuten versteht.
    Die solidarische Organisation:
    Alle Menschen sollen einen gerechten Anteil am Fortschritt haben, im Zweifelsfall muss er sogar abgebremst werden, wenn zu viele Menschen von ihm nicht erfasst werden. Und die Menschen sollen darauf achten, dass ihre Nächsten im gemeinsamen Fortschritt mit ihnen verbunden sind. Jeder technische Fortschritt wird darauf hin geprüft, ob er auch ein sozialer Fortschritt ist. Allerdings müssen Staat oder Gesellschaft hier und da eingreifen, und das knapst manchmal etwas an der persönlichen Freiheit.
    Die völkisch-nationalistische Organisation:
    Der Fortschritt soll einer - im Zweifelsfall imaginären - Gemeinschaft gehören, die ihn für sich nutzt und den anderen verweigert. Die "Fortgeschrittenen" sollen sich gegen die Barbaren und Habenichtse abschotten, die etwas vom Fortschritt haben wollen, das ihnen nicht zusteht. Fortschritt wird vor allem militärisch-technisch verstanden, während Kultur und Politik ganz auf eine regressive Rückwendung geschaltet werden. Ohne Gewalt, Terror und Krieg ist so ein regressiver Fortschritt nicht zu haben.
    Die demokratisch-kapitalistische Organisation:
    Die Anteile der Einzelnen und der Gruppen am Fortschritt werden frei ausgehandelt, und zwar sowohl auf dem Feld der Politik und dem der Gesetze, als auch auf dem Feld der Ökonomie. Und nicht zuletzt in Wissenschaft, Kunst und Kultur, die eine liberale Gesellschaft auszeichnen. Konsequenterweise hat der am meisten vom Fortschritt, der am meisten leistet und am meisten spart. Manchmal aber auch derjenige, der am meisten riskiert. Arbeit und Kapital sind verschiedene Formen, in die Hoffnung auf den Fortschritt zu investieren. Am Ende lebt man in einer sogenannten Risikogesellschaft, in der sich die Menschen in einem Fortschrittslabor wähnen, das jederzeit in die Luft fliegen kann.
    Die neoliberale Organisation:
    Der Fortschritt soll durch Wettbewerb erzeugt und beschleunigt werden. Die Angst, keinen Anteil am Fortschritt zu haben, und die Gier, sich von seinen Früchten zu nähren, ist Antrieb genug, um immer mehr, immer besser zu verwirklichen, selbst dann, wenn Wissenschaft und Moral dagegen sprechen. Der Fortschritt gehört jenen, die sich nach vorn durchkämpfen, die die anderen zurücklassen können. Wer gegen den Fortschritt ist, wird überrannt. Am Ende könnte es sein, dass der Markt des Fortschritts alles mögliche noch braucht, nur keine Menschen mehr.
    "In den sechziger Jahren wurde in der DDR das Kombinat der Landtechnikhersteller gegründet. Das Paradestück war der Traktor mit dem Namen "Fortschritt". Fortschritt war auch der Markenname für Herrenbekleidung in der DDR und Büromöbel in der BRD. In beiden Teilen Deutschlands gab es bis in die neunziger Jahre verschiedene Sportvereine namens Fortschritt, dann kam der Name aus der Mode."
    Wie der Fortschritt seinen Glanz verlor
    Für einen historischen Augenblick konnte man hoffen, Fortschritt sei ein sich selbst kontrollierendes System, in einer Abfolge von Erfindungen, Verbesserungen, Erneuerungen, Kritik und dann auch wieder Überwindungen und neuen Erfindungen. Doch das war ein Irrtum. Kein sich selbst kontrollierendes System wird von Interessen und Wahrnehmungen reguliert. Der Fortschritt dagegen schon. Und diese Interessen widersprechen sich immer wieder.
    Für die Interessen der Herrschaft liegt es auf der Hand, dass jede Form von politischer Macht schon im Interesse der eigenen Erhaltung alles, was in ihrem Einflussbereich an Fortschritt entstehen kann, einer strengen Regulierung unterwirft. Natürlich muss man einen Fortschritt, der die eigene Herrschaft infrage stellt, dringlich unterdrücken. Zugleich aber gehört Fortschritt, sowohl im Sinne einer Verbesserung der Lebensbedingungen als auch im Sinn der Erweiterung der Macht, auch zur Legitimierung von Herrschaft. Herrscher, auch in der demokratisch gebremsten Form, kann auf Dauer nur einer sein, der zugleich Fortschritt für seine Untertanen verspricht und ihn verhindert.
    Ein Landwirt der BioBoerdeLand Gbr erntet am 24.10.2016 Bio-Möhren auf einem Feld bei Algermissen im Landkreis Hildesheim. 
    Die Steigerung des Ertrags gilt ebenfalls als Fortschritt (dpa / Julian Stratenschulte)
    Im Interesse der Ökonomie kann man als Fortschritt alles bezeichnen, was sich erwirtschaften lässt. Zum Beispiel die Steigerung des Ertrags von und Viehzucht. Die Erweiterung von Handelswegen. Die Entwicklung neuer Fertigungsmethoden. Die Erfindung neuer Werkzeuge. Die Entdeckung neuer Rohstoffe. Die Erschließung neuer Märkte. Letztere sind schon nicht mehr ganz so sympathisch, schreckt man doch selten vor Gewalt dabei zurück. Nicht im ökonomischen Interesse dagegen liegt jede Art von Fortschritt, die jenseits des Systems von Preisen, Waren, Profiten und Schulden liegt. Und natürlich liegt sozialer Fortschritt, nicht im Interesse der ökonomischen Gewinner, also die Gleichverteilung der Früchte des Fortschritts, als Lohn, als Eigentum, nicht zuletzt aber auch in Form von Bildung und Wissen. Ökonomisch-technischen Fortschritt zu beschleunigen, aber politisch-sozialen Fortschritt zu behindern, liegt im Interesse einer wirtschaftlichen Elite.
    Nahezu immer mit Zuwachs von Wissen verbunden
    Für das Interesse der Wissenschaft ist Fortschritt nahezu immer mit einem Zuwachs von Wissen verbunden, so wie umgekehrt beinahe jedes Wissen zu einem Fortschritt führen soll. Wenn das Wissen über die Welt, den Menschen, die Zeit, die Materie, den Körper, die Gesellschaft und vieles mehr als Wert angesehen wird, dann muss automatisch Fortschritt als positive Gestaltung angesehen werden. Das Vertrauen in eine fortschrittliche Wissenschaft liegt zum einen in ihrer Unabhängigkeit von den anderen Interessen, zum anderen aber auch in ihrer Fähigkeit zur Selbstregulierung. Gute Wissenschaft kann also nur Fortschritt plus Ethik sein.
    Religion wie Ideologie behaupten, ein Bild der Welt zu haben, dem die Menschen und ihre Lebensumstände nur angepasst werden. Fortschritt ist eine Anpassung an das Ideal und nicht eine Erprobung neuer Mittel. Daher ist jede Ideologie, sogar die Fortschrittsideologie selber, ihrem Wesen nach fortschrittsfeindlich. Denn sie kann die Zukunft nicht als offenen Raum von Möglichkeiten ansehen, sondern nur als Bestätigung des Bestehenden.
    Das Interesse der Gesellschaft zählt auf das aktive Miteinander von Menschen, die auf einem gleichen Raum leben und in der gleichen Erzählung, in den gleichen Diskursen auf einen Fortschritt förmlich angewiesen sind, damit das prekäre Austarieren der Kräfte und Interessen gelingen kann. Fortschritt ist sozialer Wandel hin zu einer Situation, in der die Verhältnisse nicht nur anders, sondern besser werden - etwa dadurch, dass die Sklaverei abgeschafft wird oder die Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen gilt, dass es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt oder einen Schutz der Privatsphäre, ein allgemeines Wahlrecht oder die Pressefreiheit und vieles andere. Im Gegensatz zu einem Staat, der Sicherheit verspricht oder auch Ordnung, und im Gegensatz zu einem Individuum, das vielleicht ganz froh sein könnte, wenn sich einmal nicht mehr gar so viel ändern würde, ist die Gesellschaft um die Vorstellung des Fortschritts aufgebaut.
    Man könnte sogar behaupten: Ohne Fortschritt gibt es gar keine Gesellschaft, sondern vielleicht nur ein Volk. Während die einen, die Marktradikalen, Gesellschaft am liebsten auf den Markt reduzieren würden, versuchen die anderen, die Rechtspopulisten und Neuen Rechten, die progressive Gesellschaft auf das regressive Phantasma des Volkes zu reduzieren. Beide wollen die Geschichte der Veränderungen und Verbesserungen für alle zurückschrauben. So hat die Vorstellung vom generellen gesellschaftlichen Fortschritt ihren Glanz verloren. Sie ruft sogar Skepsis hervor. Hingegen wächst die Neigung, etwa die Zunahme autoritärer Ressentiments und rechtspopulistischer Bewegungen, sich ideologisch, politisch, moralisch und kulturell gegen die Zumutungen des Fortschritts zu verbarrikadieren.
    An allen Ecken und Enden erheben sich fortschrittskritische und fortschrittsfeindliche Impulse. Und nun rächt es sich, dass wir keine einheitliche Konzeption von Fortschritt mehr haben, sondern nur noch, wie es der marxistische Philosoph und Politiker Antonio Gramsci vorhergesehen hat, eine entsprechende Ideologie. Sie besteht in einer dreifachen Gleichung:
    Fortschritt ist gleich Arbeit.
    Fortschritt ist gleich Geschichte
    und Fortschritt ist gleich Wachstum.
    Um die Idee des Fortschritts zu retten, müsste man sie womöglich von diesen automatischen Gleichsetzungen befreien. Was natürlich mit einer gewissen Skepsis verbunden ist.
    "Der Fortschrittsgedanke der Zivilisation hat sich als ein Übermut des Menschen entschleiert." Karl Jaspers.
    Und der Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend gab eine Dialektik des Fortschritts zu bedenken, die ihn als exklusive Triebkraft der Geschichte unmöglich macht:
    "Fortschritt in eine Richtung kommt nicht ohne Aufhebung der Möglichkeit zum Fortschritt in eine andere Richtung zustande."
    Das nun würde bedeuten: Fortschritt verlangt nicht nur einen Preis - zum Beispiel den der Entfernung der Menschen von der Natur oder von den Göttern.
    Oder die stete Erzeugung neuer Probleme aus der Lösung der alten. Fortschritt produziert nicht nur stets auch einen Hang zur Regression, weil wir ja das, was durch den Fortschritt überwunden worden ist, in unserer Psyche, unserer Kultur, unseren Mythen, unserem Alltag immer auch weiter mitschleppen müssen.
    Fortschritt ist immer auch eine Selektion aus verschiedenen Möglichkeiten, die nicht ohne Macht, Interesse, Ideologie und schließlich auch Willkür vollzogen wird. Schließlich gibt es gute Gründe, an den Fortschritt nicht mehr so recht zu glauben: nicht als zwingende, lineare und übergeordnete Kraft in der Geschichte, der Politik, der Kultur und der Ökonomie. Da sind die großen, mörderischen Zivilisationsbrüche, die wir erleben mussten, die Weltkriege, den Faschismus, den Terror, was an die so gern gehegte Vorstellung von der Geschichte als Fortschritt (wenn auch mit Rückschlägen) nicht mehr glauben lässt. Da ist die immer noch steigende Ungleichheit in der Verteilung der materiellen und geistigen Güter in der Welt, die Entwertung der Arbeit, das Elend der Massenarbeitslosigkeit in vielen Ländern, was den Glauben an die Idee des Fortschritts durch die menschliche Arbeit zweifeln lässt. Und da sind die ökologischen, sozialen und kulturellen Katastrophen, die durch das ungebremste ökonomische Wachstum und die Ausbeutung von Ressourcen und Energiequellen ausgelöst und deren Folgen nur noch von sehr dummen, sehr korrupten oder sehr gierigen Menschen geleugnet werden.
    Das Bild zeigt ein Themenfoto zu Neuen Medien: Ein Schüler verschiebt App-Icons auf einer digitalen Projektionsfläche.
    Verfolgt werden zukunftsorientierten Lösungsansätze (epd/Jens Schulze )
    "Hashtag Fortschritt ist eine Thinktank Beratung für die Themen: Digitalisierung, Expansion, Strategie, Innovation und Start-up.
    Wir verfolgen mit unserer Arbeit einen konsequent zukunftsorientierten Lösungsansatz. Zielgerichtete Analysen disruptiver Entwicklungen sind für uns die Basis fortschrittlicher Beratung. Auf diese Weise entwickelt #Fortschritt Lösungen, die hohe Praxistauglichkeit mit einem elaborierten ‚Blick über den Tellerrand‘ verbinden."
    Von der Ablehnung und von der Errettung der Fortschrittsidee
    Gesellschaften sind, zumindest in einem Modell, das der amerikanische Historiker und Anthropologe Joseph A. Tainter entworfen hat, "problemlösende Organisationen". Das ist gut so, Probleme gibt es schließlich genug. Doch während sie ihre Probleme lösen, werden diese Organisationen auch immer komplizierter, vor allem in Hinblick auf ihren enormen Energieverbrauch. Als Energie kann man dabei ebenso menschliche Arbeitskraft, einschließlich der Sklaverei, fossile Brennstoffe und Ressourcen oder auch Kreativität und Fantasie ansehen. Keine davon unendlich reproduzierbar, keine davon irgend zu sichern. Fortschritt ist also ein gleichzeitiges Problemlösen und Kompliziertwerden, ein Vorgang, der, so Tainter, natürlich nicht ewig fortgesetzt werden kann.
    Jede auf einer solchen Idee des Fortschritts aufgebaute Gesellschaft bricht irgendwann einmal zusammen. Aus dem Fortschritt, der seine Versprechungen nicht mehr wahr machen kann, entsteht ein allgemeiner Hang zur Regression. Eine Vielzahl von Menschen versteht die Komplexität ihrer Gesellschaft nicht mehr, die sich von Fortschritt zu Fortschritt, von Problemlösung zu Problemlösung eingeschlichen hat. Es entsteht ein Verlangen nach großen Vereinfachungen. Auch was diese anbelangt, erinnern fortschrittsskeptische Historiker an den Niedergang des römischen Imperiums. Eine Weltordnung des Fortschritts zerfällt, weil die Menschen ihrer Komplexität nicht mehr gewachsen sind.
    Aber bedeutet das Ende eines unbedingten Fortschrittsglaubens wirklich automatisch den Rückfall in die Barbarei, den Sieg der politischen und kulturellen Regression, den Verlust aller Hoffnungen auf die Verbesserung der Lebensumstände, das Chaos oder die Lähmung? Ist der Untergang eines Imperiums des Fortschritts automatisch gleichzusetzen mit dem endgültigen Verlust eines Begriffs, der ja nicht nur Wachstum, Arbeit und Geschichte beinhaltet, sondern auch Hoffnung, Utopie, Fantasie? Der Zerfall der verschiedenen Felder des Fortschritts und die schließlich absolute Hegemonie einer ökonomischen Vorstellung von Fortschritt lösen sicher eine der größten kulturellen Krisen der Weltgeschichte aus, ob wir diese nun wahrnehmen oder vor lauter Beschäftigung mit den hyperkomplex gewordenen Problemen nicht sehen können.
    Aber auch diese Krise ist eine Chance. Dazu gehört die Auflösung einer klassischen Vermählung zwischen dem kapitalistischen Prinzip des Wachstums und des sozialen und kulturellen Konzepts des Fortschritts. Die Vorstellung, dass jeweils das eine das andere bedinge - parallel mit der Vorstellung, dass Kapitalismus und Demokratie nur miteinander gedeihen - macht der großen Ernüchterung Platz. Wir sehen einen Markt, auf dem man Wachstum ohne Fortschritt zu generieren versucht, und wir sehen eine Zukunftswissenschaft, die Wege sucht, Fortschritt ohne Wachstum zu ermöglichen. Und wir erkennen das Werden von Kulturen, die bewusst oder erzwungen auf das Prinzip des Wachstums-Fortschritts verzichten.
    Der Gipfel, der Peak von Wachstum, Rohstoffen und Kapitalisierung ist erreicht, so sieht es das so genannte Peak Thinking, und wir werden lernen müssen, das Prinzip des Fortschritts nicht mehr auf die Welt, sondern vor allem auf uns selbst anzuwenden.
    Vielleicht gibt es auch eine Gesellschaft, die auf weiteren Fortschritt im Sinne von Wachstum, Arbeit und Geschichte verzichtet, aber auch auf die gewaltsame Regression, den Rückfall in Barbarei und Zerstörung und sich in einem Post-Peak-Status einrichtet.
    Der japanische Soziologe und Autor Noritoshi Furuichi, Jahrgang 1985, beschreibt in "Die glückliche Jugend im Land der Hoffnungslosigkeit" eine solche Pos-Peak-Gesellschaft, die weder unglücklich noch dekadent noch hoffnungslos ist. Man lernt hier, nicht mehr immer mehr zu wollen, sondern sich an der Lebensqualität, am Glück, an der Gemeinschaft zu orientieren. Was an materiellen Fortschrittserwartungen verloren geht, wird durch kulturellen Wohlstand kompensiert. Der Erfolg scheint dem Post-Peak-Denken Recht zu geben. Befragungen nach sind die Menschen in Japan heute durchschnittlich glücklicher als zu Zeiten des ökonomischen Booms. Vielleicht sehen wir da einem ersten Experiment, einer ersten Neu-Bestimmung der Idee vom Fortschritt zu.
    Erinnern wir uns an Antonio Gramsci und seine Unterscheidung von Werden und Fortschritt.
    "Der Fortschritt ist eine Ideologie, das Werden ist eine philosophische Konzeption. Der ‚Fortschritt‘ hängt von einer bestimmten Mentalität ab, in deren Konstitution gewisse historisch determinierte kulturelle Elemente eingehen; das ‚Werden‘ ist ein philosophischer Begriff, bei dem der 'Fortschritt' abwesend sein kann. Bei der Fortschrittsidee wird die Möglichkeit einer quantitativen und qualitativen Messung unterstellt: mehr und besser."
    Vom "immer mehr" beginnen wir uns derzeit langsam, vielleicht zu langsam zu verabschieden. Das "besser" dagegen wird neu verhandelt:
    Besser für wen? Besser wozu? Besser um welchen Preis? Vielleicht bleibt nun wieder ein wenig Platz für das Werden. Das Werden eines Menschen der Zukunft, der nicht nur fit, wettbewerbsfähig und konsumlaunig ist, sondern sich in Ernst Blochs Sätzen findet.
    "Wir sind. Aber wir haben uns nicht. Also werden wir erst."
    Wenn wir in diesem Sinne werden, brauchen wir uns keine Gedanken mehr darüber zu machen, ob wir das dann noch Fortschritt nennen oder einfach die Arbeit am Mensch-Sein.