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Musiktheater im Revier
Alles andere als vertanzt

Die Amerikanerin Bridget Breiner ist seit drei Jahren Ballettdirektorin am Musiktheater in Gelsenkirchen. Doch nicht nur das. Auch mit über 40 Jahren steht sie regelmäßig noch als Ballerina auf der Bühne. So wie in ihrem neuen Stück "B-3, vertanzt".

Von Nicole Strecker | 01.02.2016
    Blick auf die Fassade eines quaderförmigen Gebäudes mit vielen großen Fensterflächen.
    Das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen (dpa / picture alliance / Marius Becker)
    Ginge es in der Kunstwelt gerecht zu, möchte Choreograf David Dawson wohl halb-ernst vermitteln, - ginge es gerecht zu, würde man den Tanz wohl als reinste Kostbarkeit ansehen, als Wertanlage so edel wie Gold.
    Doch leider: Der Körperkunst haftet nun mal seit jeher der "Sweet Spell of Oblivion", der süße Zauber des Vergessens an – so der Titel von Dawsons subtil-übertreibenden Huldigungs-Choreografie ans Ballett, in der die Schönheit zeitgleich schwelgt und schwindet. Die Tänzer treten wie in Goldglanz getauchte Pralinés auf, goldene Trikots in goldenem Licht. Dazu neun Präludien von Bachs eigentlich mal wohltemperiertem, jetzt eher amalgamiertem Klavier.
    Eine ironische Paraphrase
    Dirigent Valtteri Rauhalammi hat die nüchtern-luzide Komposition mit seinem Arrangement für Orchester mit romantischem Schmelz überzogen – nicht sehr bekömmlich für das Werk, aber ein Statement für den Abend: Denn Dawsons Choreografie ist wie eine ironisch-dekonstruierte Paraphrase auf George Balanchines berühmte "Juwels": Jede der technisch hochgetuneten Bewegungen wird von den charmanten Gelsenkirchener Tänzern exquisit in den Raum gezirkelt und feiert stets sich selbst, zelebriert die Kunst des neoklassischen Tanzes – um dann doch vom Dunkel verschluckt zu werden als wären sie nie dagewesen. Ein dekadent-luxuriöser Exzess vor dem schwarzen Nichts.
    Dann: harter Kontrast. Vom aristokratischen Ballett-Ästhetizismus zur zeitgenössisch-demokratischen Tanz-Arbeit. Acht Tänzer schwenken zu Beginn von Bridget Breiners Choreografie "Hold lightly" silberne Blechkübel. Sprünge, Pirouetten, Pas-de-Deux' – alles stets mit Eimer im Arm oder wahlweise auch mal auf dem Kopf.
    Ballett mit Blechrequisite zu Beethovens wunderschönem 3. Klavierkonzert in c-Moll. Absolute Musik und dazu anekdotischer Tanz mit rustikaler Komik – so geht man eben amerikanisch-frei und -frech mit der Furcht vor dem Komponisten-Titan um.
    Rebellion gegen die Knechtschaft der Form
    Tatsächlich ist Breiners schon 2009 entstandene Choreografie eine Rebellion gegen die Knechtschaft der Form. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt – das Schiller-Prinzip könnte Motto für Breiners Ballett gewesen sein, wenn im letzten Satz der Musik das Bewegungsmaterial befreit von allen Genre-Zuschreibungen klassische Akademik mit Bocksprüngen und Showtanz kombiniert.
    Ein Beethoven-Ballett wie ein Boogie-Woogie, irrwitzig-heiter, naiv, fantasievoll. Breiners Choreografie ist die gelungenste des Abends, weil sie – anders als ihre männlichen Kollegen - wirklich Akzente setzt, eigenwillige Bewegungspartikel, die im Kopf hängen bleiben. Aber das wollen ihre beiden endzeit-begeisterten männlichen Kollegen ja offenbar nicht, weder der Flüchtigkeits-Fan David Dawson, noch der Portugiese Benvindo Fonseca, ein in Deutschland noch kaum bekannter Choreograf, der die Uraufführung des Abends kreierte.
    In seinem Stück "Dawn of an Announced End" wird die titelgebende Tanzdämmerung wild und archaisch wie in einem Ritual beschworen: Ein Mann steht in einem von der Decke rieselnden Sandstrahl wie in einer Stundenuhr. Dann bricht er aus, das Ensemble berauscht sich an der Revolte gegen das Schicksal. Nach vorn geklappte Oberkörper, martialische Sprünge und vor allem immerzu heftig rudernde Arme. Ein begrenztes, auf Effekt zielendes Bewegungsmaterial, aber die lustvolle Ekstase passt überraschend gut zu Beethovens aufschäumender 2. Sinfonie.
    Griffiger Schluss für einen unterhaltsamen Tanzabend
    Am Ende taucht Fonseca seine zerzauste Gemeinschaft in rotes Höllenlicht, lässt sie für einen Augenblick triumphieren ehe sie von einer Schippe Sand aus dem Himmel begraben werden. Ein griffiger Schluss für einen unterhaltsamen Tanzabend, der in kaum vergleichbaren choreografischen Handschriften die tanztauglichen Themen Vergänglichkeit und Autonomie variiert – und dabei selbst vom neoklassisch-filigranen Formzwang zur zeitgenössisch-undefinierten Freiheit findet.
    Mehr zur Aufführung und den Terminen finden Sie auf der Homepage des Musiktheaters im Revier.