Dienstag, 30. April 2024

Archiv

Fünf Jahre nach Fukushima
Der Streit um den Schilddrüsenkrebs

Hat es nach dem Atomunfall in Fukushima vor fünf Jahren einen Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in der Region gegeben? Ja, sagt die eine Forschergruppe, nein, eine andere. Sie beide haben für ihre Forschungsarbeit dieselben Fallzahlen genutzt - diese aber mit unterschiedlichen Kontrollgruppen verglichen.

Von Dagmar Röhrlich | 10.03.2016
    Eine Mutter und ihr Kind werden nach dem Atomunfall von Fukushima im März 2011 auf radioaktive Strahlung untersucht.
    Welche gesundheitlichen Folgen hatte Fukushima für Kinder? (dpa/picture alliance/EPA/Asahi Shimbun)
    Statistiken sind so eine Sache: Mit ihrer Hilfe lassen sich aus ein- und denselben Daten diametral entgegengesetzte Schlüsse ziehen. Beispiel: das Schilddrüsenkrebsscreening nach der Atomkatastrophe von Fukushima Daichi. Dazu hat die Fukushima Medical University im Rahmen des Programms zur Überwachung der Gesundheitsfolgen 360.000 Kinder und Jugendliche aus den betroffenen Gebieten eingeladen. Das sind alle, die zum Zeitpunkt des Unfalls 18 Jahre waren oder jünger. Rund 300.000 haben teilgenommen:
    "Bei der Hälfte der Kinder und Jugendlichen gab es keine Veränderungen. Bei der anderen fanden wir - wie so oft in Schilddrüsen - Zysten oder Knötchen. Bei 2.200 von diesen 300.000 Kindern und Jugendlichen mussten wir deshalb nähere Untersuchungen durchführen. Bei mehr als 500 von ihnen führten wir eine Biopsie durch und fanden 113 Fälle von Schilddrüsenkrebs oder Verdachtsfälle," erklärt Koichi Tanigawa von der Fukushima Medical University. Die meisten Betroffenen sind zwischen elf und 18, einer ist sechs Jahre alt. Das sind die Zahlen, aus denen zwei Forschergruppen völlig unterschiedliche Schlüsse gezogen haben.
    "Unserer Meinung nach spiegeln diese Ergebnisse die Zahl der Menschen wider, die bereits vor dem Unfall Schilddrüsenkrebs entwickelt haben und damit die natürliche Krebsentstehung in der Bevölkerung."
    "Wir sehen eine Erhöhung des Schilddrüsenkrebsrisikos um das Zwanzig- bis Fünfzigfache."
    Und: Je stärker das Wohngebiet vom Fallout betroffen war, desto stärker die Erhöhung. Ein Datensatz - zwei entgegengesetzte Ergebnisse.
    Nicht vergleichbare Daten herangezogen?
    Der Grund: Toshihide Tsuda und seine Kollegen verglichen die Daten mit dem japanischen Krebsregister. Die Forscher des Fukushima Health Management Survey wählten Vergleichsgruppen in drei anderen, nicht von der Strahlung betroffenen Distrikten Japans. Beide Ansätze haben Schwächen - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
    "Die Problematik mit diesem Schilddrüsenscreening durch die Fukushima Medical University ist vielfältig", erklärt Wolfgang Weiss, Mitglied der Strahlenschutzkommission und der UN-Organisation zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung UNSCEAR. So wird für das Screening modernste Ultraschalltechnologie eingesetzt: Aber die ist nicht weltweit erprobt, sodass Erfahrungswerte fehlen, was die Befunde eigentlich aussagen. Statistisch sauber wäre es dann, zwei gleichwertige Gruppen zu untersuchen: gleichwertig an Zahl, Alter, körperlichen Eigenschaften, Verhalten und auch Ernährung. Nur, dass man bei der einen Gruppe weiß, wie stark die Kinder und Jugendlichen dem radioaktiven Jod ausgesetzt waren, während die andere aus einem unbelasteten Gebiet stammt.
    "Diese Vergleichsgruppen gibt es, sie sind allerdings sehr viel kleiner, und deswegen wird da argumentiert, das ist nicht vergleichbar."
    Krebsregister ergibt verzerrtes Bild
    Auch der von Toshihide Tsuda gewählte Vergleich mit dem Krebsregister sei keine Lösung:
    "Die Krebsregister sind aber Register von Fällen, die gemeldet werden. Wenn Sie screenen, systematisch die Leute untersuchen, dann bekommen Sie eine bessere Repräsentativität über das Geschehen, als wenn das, was vom Arzt zufällig oder nicht zufällig gemeldet wird, in einem Krebsregister auftaucht."
    Das nationale Krebsregister weist also nur die erkannten Fälle aus und damit weniger, als tatsächlich vorhanden sind. Das Screening erfasst jedoch alles. Vergleicht man beide miteinander, ergibt sich also ein verzerrtes Bild. Beide Forscher fühlen jedoch ihre Sicht der Dinge durch die Daten von Tschernobyl bestärkt.
    Koichi Tanigawa von der Fukushima Medical University sieht sich bestätigt, weil in Japan keine Kinder aus der empfindlichsten Gruppe von unter fünf Jahren betroffen seien. Die Fälle, die man finde, fielen zudem nur wegen des hochmodernen Ultraschallverfahrens auf.
    Toshihide Tsuda von der Okayama University erklärt, auch in Tschernobyl habe es in den ersten vier Jahren zunächst einen leichten Anstieg der Krebsfälle bei Jugendlichen gegeben, ehe dann die Kleinkinder betroffen waren.
    Von dieser Interpretation ist der Epidemiologe Keith Baverstock von der University of Eastern Finland nicht überzeugt. In den ersten Jahren nach Tschernobyl entdeckten Endokrinologen sieben oder acht Fälle von Schilddrüsenkrebs, als sie in Schulen Jugendliche auf Kropf hin untersuchten, erklärt er:
    "Das war kein Screening mit Ultraschall, sondern sie tasteten den Hals ab und fanden so die Tumoren. Anders als Herr Tsuda bin ich nicht der Meinung, dass diese Fälle durch die Strahlung verursacht worden sind."
    Es brauche Jahre, ehe sich Schilddrüsenkrebs entwickele - erst recht ertastbare Tumoren. Nach Tschernobyl seien die ersten Krebsfälle bei Kleinkindern aufgetreten - und das drei Jahre nach der Havarie. In Fukushima sieht man davon bislang nichts. Keith Baverstock hält die Schlussfolgerungen von Toshihide Tsuda für verfrüht:
    "Das Dumme am Schilddrüsenkrebs ist, dass seine Zahlen zum Teil davon abhängen, wie genau man nach ihm sucht. Ich kann mich mit meiner Einschätzung natürlich irren. Aber das wird sich schnell herausstellen, denn wenn es einen Anstieg gibt, sollten wir ihn bald sehen."
    Koreanische Studie weist auf weite Verbreitung von Schilddrüsenveränderungen hin
    Wolfgang Weiß erklärt, derzeit ließe sich zum Stand der Dinge nur zweierlei sagen:
    "Was in Tschernobyl beobachtet worden ist, war eine andere Altersgruppe als in Fukushima. Wenn das allgemeingültig ist, dann erwarten wir nicht, dass bei den Expositionen, die wir bisher abgeschätzt haben, eine signifikante Erhöhung bei den Krebsinzidenzen bei Kindern in Fukushima beobachtbar sein wird. Nur das ist ganz klar eine Erwartung, die sich aus unserer bisherigen Evidenzlage ergibt. Das ist kein Beweis."
    Einer koranischen Studie zufolge könnten unter Kindern Veränderungen der Schilddrüse sehr viel verbreiteter sein als angenommen. Durch ein Ultraschallscreening lag dort die Zahl der Diagnosen im Jahr 2011 fünfzehnfach höher als 1993 - ohne dass sich an der Sterblichkeit etwas verändert hätte.