Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Rhetor der Republik

Er bekannte sich zur Schönheit des Wortes und fühlte sich dem Zweifel verpflichtet: der Philologe und Schriftsteller Walter Jens. Politisch war er ein nimmermüder Geist, bis er 2003 an Demenz erkrankte. Jetzt ist er im Alter von 90 Jahren in Tübingen gestorben.

Von Kersten Knipp | 10.06.2013
    Wenn die bösen Worte fallen, die dumpfen Reden durchs Lande schallen – dann hält man sich am besten die Ohren zu. Oder aber man hört doch hin, aber nicht, um sich zunächst betören und anschließend verführen zu lassen – sondern um zu analysieren; um zu verstehen, wie die, die da auf die Volksfeinde schimpfen, die Massen einfangen. Walter Jens, Jahrgang 1923, hörte diese Reden. Und sie sind ihm nie mehr aus dem Kopf gegangen.

    "Meine Damen und Herren, es scheint mir kein Wunder, dass ein Volk, dem kein Hamilton die Tricks und Kniffe der Parlamentsrede beigebracht hatte, jener rednerischen, unter massenpsychologischen Aspekten vorgetragenen Rattenfängerpropaganda so geschwind erlag, deren Prinzipien Hitler mit schöner Offenheit erläuterte: Brechung des Willens als oberstes Ziel."

    "Von deutscher Rede" spricht Walter Jens in diesem Vortrag aus dem Jahr 1965. Da hatte er bereits seit vielen Jahren einen Lehrstuhl in Tübingen inne, für Klassische Philologie zunächst, anschließend für Rhetorik. Doch Jens war auch ein Schriftsteller. Mehrere Romane hat er geschrieben, viele Erzählungen und zahllose Essays, Kritiken, Fernseh- und Hörspiele. 1976 wurde er zum Präsidenten des deutschen PEN gewählt, ein Amt, das er bis 1982 innehatte. Von den Aufgaben des Schriftstellers hatte er ganz eigene Vorstellungen, die unverkennbar auf den Erfahrungen der Diktatur gründeten. Ein Schriftsteller, erklärte er 1981, anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises, sei vor allem einem verpflichtet: dem Zweifel und Vorbehalt.

    "Ich glaube, dass die Position eines Schriftstellers nicht die eines dogmatischen Parteigängers für eine bestimmte Sache, sondern ausschließlich die des Warners ist – nicht des Lobredners, sondern die des Warners, so hat Heine sein Amt verstanden. Warnen an die Menschen vor der sie gefährdenden Bedrohung, so fasse auch ich sie auf."

    Der Einspruch des Intellektuellen – er mag nicht immer durchschlagende Wirkung haben, aber er hilft, die Republik in Schwung zu halten. Eben darum war es Jens gegangen, als er sich nach Kriegsende der "Gruppe 47" anschloss, als deren strenger, aber wohlwollender Kritiker. Denn auch ihr ging es ja um dieses: Dem Land wieder zu freier Sprache zu verhelfen.

    "Untertanenstaat und freies Wort verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser. Denn wo Gewalt herrscht, braucht der Rhetor sich keine Mühe zu machen, um die Hörer mit kunstreicher Suade auf seine Seite zu bringen. Er kann es einfacher haben: Der Säbel ersetzt Argument und Beweis."

    Aber das Wort ist nicht nur ein Instrument der Demagogen. Es ist auch das Material der Dichter und Sänger. Sprache berührt, verzaubert auch. Jens, der als überzeugter Protestant auch ein Ohr für das Flüstern der Transzendenz hatte, der diesem Flüstern auch in seinen Übersetzungen von Teilen des Neuen Testaments nachspürte – er bekannte sich zur Schönheit des Wortes, dem die Dichter, wie er 1963 erklärte, seit jeher seine Bannkraft verleihen.

    "Natürlich hat es immer Spaß gemacht, von einem Mann her, der nun zugleich Rhapsode und Poet war, die ganze Welt in Bewegung zu setzen. Natürlich hat es immer in der Geschichte Menschen gereizt, dem gewissermaßen allein durch ihre Stimme und nicht mit Hilfe von Krücken Ausdruck zu geben."

    Politisch blieb Jens ein nimmermüder Geist. Ob er in sich den 80er-Jahren an Sitzstreiks gegen amerikanische Pershing-Raketen beteiligte oder Jahre später, zur Zeit des Ersten Golfkriegs, amerikanische Deserteure in seinem Haus versteckte: Immer beteiligte er sich an den politischen Debatten seiner Zeit. Und trotzdem oder gerade deswegen: Irgendwann begann ihn die Bundesrepublik zu langweilen.

    "Es ist im Augenblick sehr langweilig. Es werden keine Grundsatzdebatten, die ich mir wünsche, ausgeführt. Es gibt keine lebendige Demokratie ohne das Vorhandensein von Visionen. Ohne Visionen, die das bescheidene Heute am besseren Morgen messen, kann ich mir ein lebendiges Gemeinwesen nicht vorstellen."

    Das Leben des Walter Jens – ein Vorzeigeleben? Leider nicht. Im Jahr 2003 kam die Karteikarte mit der Ordnungsnummer 9265911 an die Öffentlichkeit. Sie bezeugte Jens´ Mitgliedschaft in der NSDAP. Eine Lappalie gewissermaßen, vermutlich ein Jugendfehler, ohne direkte politische Folgen. Allerdings: Von Walter Jens, dem Mahner und Warner, hätte man über diese Sünde sehr viel früher Auskunft erwartet. Sie blieb aus, wie bei so vielen seiner Generation. Fast zeitgleich zu dieser Enthüllung wurde Jens zum Opfer einer furchtbaren Krankheit, der Altersdemenz. Er habe wegen seiner NSDAP-Karte ein reines Gewissen. Es sei ein reiner Karteivorgang gewesen, und den habe er, sagte er, "weiß Gott wieder gut gemacht". An viel mehr, sagte er, könne er sich nicht mehr erinnern. Wie so viele dieser Generation, die ihre Geheimnisse nicht oder viel zu spät preisgaben.